Freischütz: Jägermeisters Angststörung
Showtime: Kilian (Steffen Kubach) lässt mit der Angst spielen.
Quelle: Paul Leclaire_Köln
Lübeck. Der Regisseur Jochen Biganzoli will das – zu Recht – nicht wahrhaben. Deshalb beugt er den Jägerburschen Max unter Versagensphobie nieder, deckt den enormen Erwartungsdruck der Gesellschaft peinigend auf: „Was traf er denn, he he he?“ Webers Dissonanzen gerinnen zu ätzenden Bildern. So wird das nichts, mit der Ehelichung von Miss Germany Agathe. Und zum realen Jägerlatein gehört nun mal auch das fachmännische Aufbrechen eines frisch geschossenen Rehs ...
Handkamera-Videos von Konrad Kästner
Konrad Kästner, in Kiel bekannt nicht zuletzt durch seine Videos für Karaseks Ring des Nibelungen, lässt Roman Malzan mit seiner Antichrist-Handkamera in panisch oder aggressiv verzerrten Gesichtern herumzoomen. Deren Dogma-Bilder flackern nervös auf den kaltweißen Prospektwänden der Bühnenbox (Wolf Gutjahr) herum. Die biedermeierlich betulichen Dialoge werden durch das sprechende Wummern eines schlagenden Herzens ersetzt, so dass die Musiknummern filmschnittartig gedrängt aufeinanderprallen.
Tobias Hächler glänzt als panischer Max
Max, dem Tobias Hächler mit einem imposant baritonal grundierten Heldentenor viel Stimmpotenz verschafft, bekommt es folgerichtig mit mehr Negativfiguren zu tun als gewohnt. Nicht nur Caspar (mit Bassschärfe und rollenden Augen: Taras Konoshchenko) setzt ihm zu. Das Ännchen, sonst harmlos muntere Spielopernfigur, gibt die gefährliche Schlampe, die ihre braven Texte zynisch karikiert. Dazu passt bestens, dass Andrea Stadel die Soubrettenpartie in coole Vokalattacke verwandelt. Selbst Wunschfrau Agathe ist aus Max angstschweißiger Perspektive eine zwielichtige Ikone: María Fernanda Castillo zaubert deshalb nicht nur lyrisch, sondern betont sehr gekonnt auch jugendlich-dramatische Züge.
Wolfsschlucht als TV-Spielshow
Wenn es dann in der Wolfsschlucht-Szene tatsächlich bei Weber dämonisch wird, dreht die Regie den Spieß folgerichtig um: Bariton Steffen Kubach verwandelt als Kilian im Glitzer-Outfit das Freikugel-Gießen in eine widerlich amüsante TV-Spielshow Marke Privatsender 2018. Und „Auftrags-Griller“ Caspar verteilt dazu Bratwurst.
Befindlichkeiten der deutschen Nation
Sowieso will Biganzolis Regietheater nicht nur die grotesken Angststörungen von Individuen beleuchten. Im statisch oratorisch aufbereiteten, aber gerade deshalb dem Happy End skeptisch gegenüberstehenden dritten Akt holt er Publikum auf die Bühne („Erlebnisplätze“). Im Biergarten werden Befindlichkeiten der Nation durchbuchstabiert: ein Einbürgerungstest, Luther als Playmobil-Figur, der deutsche Papst, der Mercedes-Stern, Özil mit dem Weltmeisterpokal, Merkels Neujahrsbotschaft und der hochprozentige Seelentröster Jägermeister. Als Deus-ex-machina-Eremit (guter Ton, schlechte Sprache: Minhong An) schwebt Präsident Steinmeier vom Himmel und versucht, mit dem Bundesadler und dem Grundgesetz kollektive Ängste zu verdecken.
Andreas Wolf behält Kontakt zu den Sängern
Lübecks Interims-GMD Andreas Wolf lässt sich am Pult der Philharmoniker voll auf die schwarze Seite des Werks ein. Deshalb tönt manches im Orchestergraben vielleicht roher als gewohnt. Wie souverän der Dirigent aber die im Haus vagabundierenden Solisten und den stimmstarken Chor (Einstudierung: Jan-Michael Krüger) beisammenhält, ist bewunderungswürdig.
Buhs und Bravos
Die Publikumsreaktion ist tief gespalten. Obwohl Biganzoli keineswegs radikaler vorgeht als bei Schrekers Fernem Klang oder Schostakowitschs Lady Macbeth steht die determinierte gutbürgerliche Erwartungshaltung diesmal der Akzeptanz einer quergedachten Befragung des Stücks im Weg. Auch ein Reflex tiefsitzender Ängste wahrscheinlich …
Von Christian Strehk
KN