Theater an der Wien

Oper: Der Rütlischwur hinter dem Grenzbalken

Torsten Fischer inszeniert „Guillaume Tell“ als Bürgerkrieg zwischen der Schweizer Obrigkeit und dem unterdrückten Volk.
Torsten Fischer inszeniert „Guillaume Tell“ als Bürgerkrieg zwischen der Schweizer Obrigkeit und dem unterdrückten Volk.(c) Moritz Schell
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Torsten Fischer erzählt "Guillaume Tell", Rossinis letzte Oper, als mit Symbolen überfrachtete Bürgerkriegsstory. Trotz achtbarer Besetzung kommt der Abend auch musikalisch nur langsam in Fahrt.

Die Mauer strahlt in Weiß. Zuvor war sie eine Videowall und hat sich vom Schnürboden gesenkt, um mehrheitlich Kampfflugzeuge in Aktion zu zeigen. „Dunkelheit schützt“, singt Tell jetzt in ihrem Licht. Dann kommen sie, werfen große Schatten: die Männer aus Unterwalden, die Schwyzer, schließlich die aus Uri. Alle müssen auf dem Weg zum Rütli unter der Mauer durch. Da die Ausstatter Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos finden, zwei Symbole seien besser als eines, muss sich für die Ankömmlinge jeweils auch noch ein roter Schlagbaum öffnen. Die Herren des starken Schoenberg-Chors robben an die Rampe, abgekämpft, mit Blut an den Händen. Doch verbunden werden auch die Schwachen mächtig: Alle richten sich auf, machen sich den Oberkörper frei. Formiert sich die Eidgenossenschaft mit nackter Brust? Nein, sie schlüpfen in weiße Hemden und strecken zwischen ihren Fäusten gespannte Krawatten in die Höhe. Zuvor sind noch Tell und der hier reichlich zwielichtige Walter Fürst mit mannhaftem Schnitt in die Handfläche Blutsbrüder geworden wie Siegfried und Gunther...

Tell als Durchschnittstyp

„Wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leisten“, möchte man Torsten Fischer zurufen, auch wenn das Regisseurshirn hier eher zuviel als zuwenig Ideen geboren hat. Mit seinen Gluck-Inszenierungen im Theater an der Wien auf mittlerweile allzu viele (Anti-)Kriegsstücke abonniert, hat der Regisseur nun Rossinis „Guillaume Tell“ auf die Bühne gebracht. Zurechtgestutzt auf dreieinhalb Stunden (inkl. Pause), wird die Grand opéra durch seinen Zugriff einerseits von Folklore und Natur nahezu völlig befreit, andererseits jedoch mit einer üppigen Bildsprache überfrachtet: Diese zerfällt in schlüssige, hanebüchen-plakative und manchmal allzu verkopfte, weit hergeholte Details. Etwa der Schlagbaum: Schweizer Abschottung versus Habsburgs Version eines Großreichs, Kantönligeist statt Europa? Laut Programmheft wollte Fischer einen Bürgerkrieg zwischen der (auch aus der Schweiz stammenden) Obrigkeit und dem unterdrückten Volk zeigen – verständlich, dass die Titelfigur da ambivalent angelegt sein muss.

Christoph Pohl ist ideal als Durchschnittstyp, der zunächst widerwillig zur Waffe greift, dann aber für seine Familie alles wagt. Sängerisch hat diese den Einsatz verdient, denn Marie-Claude Chappuis (Hedwige) lässt mütterliche Herzenstöne hören und Anita Rosati liefert als Jemmy knabenhaft zarten, unforcierten Höhenglanz. Dass Pohl seinem angenehm lockeren, nuancierten Bariton zum Trotz nie wirklich zu einer Autoritätsfigur aufsteigt, darf da schon als Interpretation gelten. Wieder einmal nimmt schon die Ouvertüre die finale Auseinandersetzung vorweg, die hier als Ringkampf Gestalt annimmt, bei dem Tell sein Geschoß mit der Hand in des Landvogts Brust rammt. Die Unterdrückung hat ein Ende und „Liberté“-Flugblätter schwirren durch die Luft.

Apropos Unterdrückung: Stärker als diese lahme Rauferei wirkt zuvor die Gitterplattform, auf der sich Ante Jerkunica als faschistoid-despotischer Gesler absenkt und den Melcthal von Jérôme Varnier, hier ein echter Priester, unter sich zerquetscht – zwei der markanten tiefen Männerstimmen, die in wichtigen mittleren Rollen aufgeboten sind. Auch der Walter Fürst von Edwin Crossley-Mercer gehört zu ihnen. Fischer beschäftigt ihn schon den ganzen ersten Akt als stumme, aber einflussreiche Figur. Hat er versucht, Melcthal zu retten, oder eher seinen Tod besiegelt – aus taktischen Gründen, um Arnold auf die Seite der Rebellen zu bringen? An ihm – zum Bruder statt zum Sohn Mecthals umgetextet, vielleicht des geringen Altersunterschieds der Sänger wegen – spielt Fischer plakativ die Radikalisierung zur Rambo-Kampfmaschine durch.

Im vierten Akt liefert der heldische John Osborn einen späten, besonders im zähen ersten Teil des Abends lang ersehnten musikalischen Glanzpunkt. Da waren sie dann auch wieder, die Krawatten im Chor: bürgerliche Würgewaffen? Für die gefürchtete lyrische Arie „Asile héréditaire“ würde man sich noch mehr Süße wünschen, aber Osborn, alles andere als ein Krawattltenor, beherrscht die Voix mixte, mit der er sich schon früher bestens an den souverän perlenden Sopranglanz von Jane Archibalds aparter Mathilde angeschmiegt hatte. In der folgenden Cabaletta, die mit hohen Cs gespickt ist, reüssiert er mit einer kraftvollen Treffsicherheit, die sich viele Manricos in Verdis „Trovatore“ nur wünschen könnten.

Im Marschtritt dieses Reißers ergibt auch die Drehbühne Sinn, zuvor ein zu mechanisch eingesetztes Mittel, um das Geschehen zu dynamisieren. Hier, im Martialischen, ebenso wie im wohldosierten, sängerfreundlichen Schwelgen zeigten sich die Wiener Symphoniker unter der gediegenen Leitung von Diego Matheuz überzeugender als im rein Brillanten, Virtuosen, das schon im Finale der Ouvertüre gefordert wäre.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2018)

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