Schatten wachsen, Helden schrumpfen

In eine schäbige Tiefgarage wird an der Berliner Lindenoper Luigi Cherubinis «Medea» verbannt, an der Deutschen Oper tummeln sich die Figuren von Bergs «Wozzeck» in der Kneipe. Die Regiekonzepte lassen Fragen offen; umso tragender wird die musikalische Leistung, und da gebührt Sonya Yonchevas Medea die Krone.

Eleonore Büning
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Medea ist zum Fremdsein verdammt. Sonya Yoncheva verkörpert sie mit unerhörter Intensität. (Bild: Kamil Zihnioglu / EPA)

Medea ist zum Fremdsein verdammt. Sonya Yoncheva verkörpert sie mit unerhörter Intensität. (Bild: Kamil Zihnioglu / EPA)

Kinder und Tiere gehen immer. Man staunt, dass diese rostige alte Theaterfaustregel immer noch Anwendung findet, sei es auf Twitter, sei es in Commercials. Und seit der Wallach Gerrit, schwarz wie Fury, überaus erfolgreich den Jochanaan in der Salzburger «Salome» hat doubeln dürfen, haben Pferde in der Oper die Nase wieder ganz vorn.

Für gleich zwei Eröffnungspremieren des Wochenendes wurden in den Werkstätten der Opernstiftung Berlin lebensgrosse Rossattrappen gebastelt: ein mit Kunsthaar beklebtes, nüsternblähendes Militärpferd für den Hauptmann in Alban Bergs «Wozzeck» an der Deutschen Oper Berlin; zwei ebenholzglänzende Pferdestatuen für Luigi Cherubinis «Medée» an der Staatsoper Unter den Linden. Die standen dann mehr oder weniger kopflos auf den Bühnen herum. Nicht einmal mehr die Programmhefte geben Aufklärung darüber, welchen Symbolwert sie haben.

Anders steht es um die Kinder. Die werden gebraucht. In «Wozzeck» überlebt allein das Kind die familiäre Katastrophe. Medeas Kinder werden Opfer eines berühmten antiken Sorgerechtsstreits.

Trinken, tanzen, streiten

Die wenigen Silben, die Alban Berg dem Kind zu singen aufgibt, in der finalen «Invention über eine Achtelbewegung», zerschneiden das Herz. «Hop hop», singt es, hat nichts kapiert und folgt dem restlichen Kinderchor hinaus aufs Feld, die Leiche der Mutter zu besichtigen. Direkt nach dem spätromantischen Vierminutenrequiem in der Todestonart d-Moll, welches das Orchester angestimmt hatte, wirken diese kurzen Kinderrufe wie eine Rückkehr in die Atonalität, sie machen zugleich jede Hoffnung auf Humanisierung der unmenschlichen Verhältnisse zunichte, die in Georg Büchners Vormärz-Fragment angeprangert wurden.

Der Schluss stammt freilich so gar nicht von Büchner. Er ist eine Zutat Bergs bzw. des Büchner-Herausgebers Karl Emil Franzos. Es könne, sagte der Komponist 1929 in seiner Analyse des «Wozzeck», die ganze Geschichte, wenn sie aus ist, ebenso gut wieder von vorn anfangen.

Regisseur Ole Anders Tandberg hat den neuen Berliner «Wozzeck», wie er das gerne tut, wieder einmal nach Norwegen verlegt, genauer gesagt, nach Oslo, in ein ihm bekanntes Restaurant. Wir kennen es nicht. Links steht das Klavier, rechts der Bartresen, dazwischen sitzt das Kind an einem Tisch. Des Doktors Studierstube und das Freie Feld, Soldatenschlafsaal und Einsamer Waldweg, Ehebruch und Mord, alles passt irgendwie in diese Kneipe. Das Kind schläft, wird gefüttert, geherzt, schläft weiter. Die Eltern laufen her und hin, trinken Bier, tanzen, streiten. Der Chor, in norwegischer Bauerntracht, tanzt, trinkt Bier, schwenkt die norwegische Flagge.

Man muss das nicht verstehen. Bergs Musik (so Tandberg) erkläre sowieso alles wie von selbst. Warum dann nicht gleich konzertant? Das Orchester unter Leitung von Donald Runnicles bietet eine plastisch-saftige Ausdeutung der Partitur, mit üppigem Schönklang. Der Chor singt wunderbar. Johan Reuter ist ein hell timbrierter Wozzeck, Elena Zhidkova eine feurige Belcanto-Marie, leider unverständlich, Burkhard Ullrich ein kraftvoll intonierender Hauptmann, weit entfernt von jeder Karikatur, und Seth Carico ein charismatischer Doktor.

Dunkle Sonnenstimme

Anderntags hat Andrea Breth an der Lindenoper den Palast von Korinth in eine heruntergekommene Tiefgarage verlegt, mit Rolltoren und Abluftfiltern. Hier wird das Diebesgut gehortet, das die Argonauten mitgebracht haben. Das Goldene Vlies, ein Flokati mit monströsen Widderhörnern, lugt aus einer der Kisten heraus, wird herumgereicht und mannhaft vom korinthischen Lagerpersonal besungen. Vergebens wachsen warnend Schatten an den Wänden, die Helden selbst scheinen zu schrumpfen: Jason, von Charles Castronovo mit kultiviertem Tenorschmelz ausgestattet, ist nur ein mickriger Möchtegern-Casanova. Ruft einerseits pathetisch die Götter an, knutscht andererseits heimlich mit Dienstmädchen. Sein Chef und Vorarbeiter Kreon (Iain Paterson) bleibt sängerisch blass und als König und Landesherr eine Witzfigur.

Den Frauen dagegen hat Breth, erwartungsgemäss, eine Opferrolle zugedacht. Wie Elsa Dreisig sich als Königstochter Dircé in den Ecken herumdrücken muss, das hat schon fast Aschenputtelformat. Medea, grandios verkörpert von der alles überstrahlenden dunklen Sonnenstimme von Sonya Yoncheva, ist, wie es der common sense verlangt seit den Tagen der Callas, kein archaisches Monster; sie wird erst von der Männerwelt zu einem gemacht.

Medea kommt spät, sie bleibt exterritorial. Das ist vom Komponisten, der sich für den widersprüchlichen Charakter seiner Titelfigur aufrichtig interessierte, so vorgesehen. Als sie endlich auftaucht in der Mitte des ersten Aktes, ändert sich der bis dato konventionelle Zuschnitt der Cherubinischen Theatermusik. Gehörten die ersten Nummern, etwa die fast unsingbar schweren Koloraturen der Dircé, noch der Sphäre der Opera seria an, so gehen die grossen, dramatischen Medea-Szenen mit ihren plötzlichen rhythmischen Rückungen, den harmonischen Kontrasten und ungezügelten Ausbrüchen weit über das hinaus, was die Glucksche Reformoper an Textauslegung erreicht hatte. Und aus dem Orchester bebt und tönt der «élan terrible» der Revolution. Standing Ovations!

Erstmals die Urfassung

So schlägt endlich doch noch die Stunde der grossen Oper, dank einer brillant aufgelegten Staatskapelle Berlin, dank Daniel Barenboims romantisierendem Zugriff und dank der überragenden Präsenz der Yoncheva. Medea zweifelt an sich, sie fleht, rast, brütet. Dass sie ihre Kinder ermordet, geschieht nicht im Affekt, sondern nach Abwägung aller Möglichkeiten. Ihre letzten Arien stehen vollends ausserhalb der Usancen einer Opéra comique. Als solche, mit gesprochenen Texten zwischen den Nummern, wurde dieses vielfach verstümmelte Zwitter-Machwerk aus wilder Übergangszeit in Berlin nun erstmals aufgeführt, nämlich in der französischen Urfassung von 1797. Endlich.

Die süssen Kinder übrigens müssen von Jason und Medea adoptiert worden sein. Es sind offenbar afrikanische Flüchtlingskinder, ein politisch korrekter Einfall der Regie. Geholfen hat es ihnen nicht.