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Schöpfungslob, entfesselt

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Ein kesser Engel: Katharina Persicke in der Messiaen-Inszenierung in Darmstadt.
Ein kesser Engel: Katharina Persicke in der Messiaen-Inszenierung in Darmstadt. © Stephan Ernst

Ein großartiger „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen und ein kleiner „Orpheus“ von Monteverdi.

Mit einer Doppel-Premiere eröffnete das Staatstheater Darmstadt die neue Saison. Ein besonderes Ereignis, ist doch Olivier Messiaens Franziskus-Oper von 1983 im Rhein-Main-Gebiet nie szenisch präsentiert worden.

Als Präludium am Abend vor „Saint François d’Assise“ mit einer reinen Spieldauer von über vier Stunden und einem riesenhaften Klang-Apparat gab es Claudio Monteverdis Orpheus-Oper von 1607. Eine treffliche Verbindung, die mehr beinhaltet als die offensichtliche Katholizität der beiden Meister (der ältere wurde später Priester). Auch mehr als die Klammern des Beginns und des späten Stadiums dieser eigentümlichen abendländischen Kunst-Gattung. Orpheus und Franziskus – das sind zwei Protagonisten im Durchgang von Passion hin zu Erlösung. Im Fall der Renaissance-Oper wird der singende Held des antiken Mythos ein leidender Liebender, der dank seiner Standhaftigkeit zur Herrlichkeit des Olymp erhoben wird. Im Fall der spätmodernen Franziskus-Oper macht der Wille zur Com-Passion, zur Mitleidenschaft den Helden, der die Vogelgesänge versteht, zum Heiligen. Götterboten dort, „der Engel“ hier. Das eine Mal wird der Hades betreten, das andere Mal der Aussätzige geküsst und werden die Stigmata des Gekreuzigten empfangen.

Die innerste Verbindung: beide Opern sind selbstbezüglich. Ihre Musik ist ihr Thema. Als Medium überirdischer Gewalt. Himmel und Erde erweichend in Gesang und Leier-Spiel sowie als Vogelstimmenkonzert und sphärische Schwingung aller Klangfarben. Musik: das Schöpfungs-, das Gottes-Medium.

Topografisch angemessen fand die Monteverdi-Aufführung im Kammerspiel statt, den unterhalb von Großem und Kleinem Haus liegenden kellerartigen Räumen: mit ihrem schwarzen Anstrich ein Hades. Inmitten seiner Kahlheit eine runde, begrünte Insel. Die Regie von Andreas Bode rührte ein dünnes Süppchen mit ein bisschen Geschlechterchen-wechsel-dich-Spiel in Kostümen, die eher teutonischer Kontrapost zur Largesse und Eleganz der tönenden Italianità waren. Die männlichen Hauptstimmen (Sopranist Robert Cowe in vier Rollen und David Pichlmaier als lustig-hipper und wütender Turnschuh-Orpheus) zeigten sich, bis auf zu meckernd gefasste Koloraturen, erstklassig. Plastische Vokalität auch in den anderen Rollen, besonders homogen im Madrigal-Quintett junger Stimmen. Joachim Enders’ Intensität und den Musikern des Darmstädter Hauses ist die Schönheit und Nachdrücklichkeit dieser „Orfeo“-Belebung zu danken.

Die Bedeutung der Messiaen-Oper hatte von Anfang an große Namen angelockt. Peter Sellars, Daniel Libeskind, Ilya Kabakov, Hermann Nitsch haben geliefert – oft großformatigen Narzissmus ihrer Konfektion. Gesanglich waren Dietrich Fischer-Dieskau, dann José van Dam und Rod Gilfry quasi auf die schwierige Hauptrolle abonniert. Der nicht minder schwierige Engel war lange bei Dawn Upshaw und zuletzt überragend bei Camilla Trilling gut aufgehoben.

Um es kurz zu machen: Darmstadt hat sich auf denkwürdige und erfahrungsgesättige Weise den messiaenschen Kosmos einer klanglichen Inkarnations-Ästhetik erschlossen. Was Intendant Karsten Wiegand an synästhetischer Interaktion aller in einem Opernhaus zur Verfügung stehenden visuellen, tektonischen, kinetischen und natürlich klanglichen Mittel zu einer grundstürzenden Wahrnehmung entfesselte, ist beispiellos. Kein konzeptionelles, kein schmalbrüstiges Belehrungstheater, sondern das messiaensche Schöpfungslob in den bewegten Raum geprägt: von dem als gigantisches weißes Kreuz im Auditorium sitzenden Chor bis zum in höchste Höhe gefahrenen Orchester, dem Eisernen Vorhang als Trennwand der Welten und riesenhafter Projektionsfläche, die auch die Decke des Hauses einschloss. Opernweltklangraum. Zuletzt auch die Übertitel als Symbolformen: eine senso-akustische biblia pauperum. Teils wunderbar animierte Giotto- und Fra-Angelico-Bilder; aber auch Leuchtsohlen beim Engel wie an Kinderschuhen. Vom Niedersten bis zum Höchsten war da kein Verlust an Deutlichkeit des Imitatio-Christi-Themas akustischer Verkörperlichung zu erleben. Zartheit der schwingenden Gottesmaterie bis zum psychedelischen Sphärenhauch. Selbstüberwindung statt Selbstverwirklichung: Darmstadt hat den „Parsifal“ für das 21. Jahrhundert kreiert.

Perfekt das Dirigat von Johannes Harneit, der die orchestralen Heerscharen des Staatsorchesters leitete bei manchmal etwas reduzierter Präsenz durch die variierten ober- und unterbühnigen Positionen. Der Franziskus Georg Festls ist sehr jung, ebenso seine Mitbrüder. Das Getragene anderer Realisierungen war wie weggeblasen. Und alles gesanglich da in großer Präsenz. Wunderbar der Aussätzige Mickael Spadaccinis. Der Engel Katharina Persickes ist kesser als üblich mit leichter und gerundeter Stimme. Der Opernchor des Staatstheaters, der Rhein-Main Kammerchor sowie die Darmstädter Kantorei spielten überwältigend die Human-Orgel aller Register. Zentrales Moment einer Sternstunde nicht nur der Operngeschichte des Rhein-Main-Gebiets, auf die man 35 Jahre warten musste.

Staatstheater Darmstadt: „L’Orfeo“ am 12., 29. Sept., 14., 27. Okt. „Saint François d’Assise“ am 23. Sept., 3., 28. Okt. www.staatstheater-darmstadt.de

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