Salzburger Festspiele: Verzockt beim Spiel des Lebens

Mariss Jansons und Hans Neuenfels glückt eine vielschichtig gebrochene Sicht auf Peter Tschaikowskys Puschkin-Oper «Pique Dame». Ein weiterer Triumph in diesem heissen Festivalsommer.

Christian Wildhagen, Salzburg
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Gründlich verzockt: Hermann (Brandon Jovanovich, rechts in Rot) hat alles auf die falsche Karte gesetzt. (Bild: Ruth Walz / Salzburger Festspiele)

Gründlich verzockt: Hermann (Brandon Jovanovich, rechts in Rot) hat alles auf die falsche Karte gesetzt. (Bild: Ruth Walz / Salzburger Festspiele)

Ja, doch – es gibt auch etwas zu lachen an diesem Abend. Als der prachtvoll singende Wiener Staatsopernchor in modischer Badebekleidung aus der Jahrhundertwende-Zeit auf die Bühne strömt und freudig verkündet: «Herrlich, endlich hat uns Gott einen schönen Tag geschenkt. So ein Tag, der kommt so bald nicht wieder», da geht ein Lachen durch die Reihen des Grossen Festspielhauses. Kaum einer im vollbesetzten Auditorium, der die Sängerinnen und Sänger in diesem Moment nicht um ihren luftigen Badi-Dress beneiden würde. Die Strafe für den Übermut, das reinigende Gewitter, folgt freilich auf dem Fusse.

Es gibt noch weitere lustige Einfälle in dieser Inszenierung von Peter Tschaikowskys «Pique Dame», der dritten Opernproduktion der Salzburger Festspiele in diesem Sommer. Etwa wenn die Regie die Idee des mythologischen Intermezzos im zweiten Aufzug wörtlich nimmt und zum Schäferspiel um Chloe, Daphnis und Pluto drei herrlich plüschige Schafe auf die Bühne setzt, die umgehend – mäh! – ihr Strickzeug auspacken. Vielleicht sind sie ein fernes Nachbild jener Laborratten, mit denen der Regisseur einst seinen legendären Bayreuther «Lohengrin» würzte; der wurde in diesem Sommer allerdings durch eine kunstgesättigte Neuproduktion ersetzt. Und auch hier wird enttäuscht, wer sich von Hans Neuenfels nach seiner skandalumwitterten Salzburger «Fledermaus» von 2001 bloss einen weiteren «Aufreger» erhofft hatte. Denn der Altmeister des modernen Regietheaters ist milde geworden. Aber kaum weniger tiefsinnig.

Fin de partie

Man muss nur sehr genau hinschauen bei dieser dichten, mit etwas Zurückhaltung aufgenommenen Premiere. Äusserlich erscheint hier nämlich vieles zunächst konventionell. Christian Schmidt hat die überbreite Festspielhaus-Bühne mit einem surreal verfremdeten, etwas gräulichen Kasino-Interieur zugebaut, in dem stilisierte Bilderrahmen das Schauen und Betrachten – also unseren eigenen Blick auf das Geschehen – zeichenhaft hinterfragen. Und dieser Blick wird noch auf andere Weise immer wieder irritiert: Weicht doch vieles, was sich zwischen den Protagonisten abspielt, immer wieder subtil von dem ab, wovon Handlung und Musik vordergründig linear erzählen. Bald wird klar: Neuenfels zielt gerade auf diese Spannung zwischen einem scheinbar planen Nacherzählen (das mit Mickey-Mousing-Effekten wie den strickenden Schafen deftig ironisiert wird) und kaum merklichen Brechungen, die ihrerseits eine Metaebene etablieren und den Zuschauer zum Reflektieren anregen.

Drei Nornen im Schafspelz? Lisa (Evgenia Muraveva, links vorne) ahnt ihr Schicksal beim Schäferspiel der Salzburger «Pique Dame». (Bild: Andreas Schaad / EPA)

Drei Nornen im Schafspelz? Lisa (Evgenia Muraveva, links vorne) ahnt ihr Schicksal beim Schäferspiel der Salzburger «Pique Dame». (Bild: Andreas Schaad / EPA)

Rein musikalisch betrachtet, schildert Peter Tschaikowsky in seiner nach «Eugen Onegin» meistgespielten Oper von 1890 nichts Geringeres als die packende Geschichte eines Ich-Verlusts. Stufe um Stufe folgen wir darin dem Abgleiten eines Menschen in den Irrsinn. Hermann, der Allerweltsoffizier, der in dieser Aufführung ein wenig dem braven Zinnsoldaten Joachim Ziemssen aus dem «Zauberberg» gleicht, verfällt immer mehr der Wahnvorstellung, man könne im Spiel sein unbedingtes Glück machen, sofern man nur die todsicheren Gewinnerkarten kennte. «Todsicher» ist dabei leider auch in anderer Hinsicht das Stichwort, denn diesem Wahn opfert er nicht zuletzt seine Liebe zur unschuldigen Lisa, die am Ende erkennen muss, dass sie für ihn nur das Mittel zum Zweck war, um an das Geheimnis der drei Karten zu kommen.

Mariss Jansons malt diese düstere Geschichte mit den Wiener Philharmonikern so detailklar und stringent aus, als lauschten wir einer klinischen Fallstudie. An die Stelle von Larmoyanz, mit der Tschaikowskys romantisches Pathos oft verwechselt wird, setzt er unerbittliche Gradlinigkeit, Klarheit im Ton – und einen unablässig vorantreibenden Puls. Es ist schon verblüffend, wie viele ostinate Rhythmen der gefeierte Dirigent in der ihm merklich bis in letzte Einzelheiten vertrauten Partitur entdeckt – hier zehrt Jansons hörbar von den Erfahrungen seines wegweisenden, teilweise noch stärker zugespitzten Amsterdamer Dirigats im Sommer 2016. Die Schicksalsrhythmen entwickeln indes auch hier einen Sog, der schlüssig auf das ähnlich todestrunkene Endspiel der «Symphonie pathétique» vorausweist. Die Qualität von Neuenfels’ Inszenierung wiederum besteht nun darin, dass sie einen leisen Kontrapunkt zu Tschaikowskys Unmittelbarkeit setzt und damit auch zur Wucht von Jansons’ Untergangsvision, die manchmal die Sänger regelrecht überspült.

Des Pudels Kern

Neuenfels ist nämlich gleichermassen ein Mann des Bildes wie des Wortes. Deshalb verhilft er der kühleren, manchmal geradezu zynisch distanzierten Erzählperspektive in Alexander Puschkins gleichnamiger Novellenvorlage zu ihrem eigenen Recht. Wo Tschaikowsky und sein Bruder Modest in ihrem Libretto alle Ironie zugunsten der emotionalen Durchschlagskraft eliminierten, findet Neuenfels Raum für einen doppelten Boden. Etwa in der zentralen Begegnung zwischen Hermann und der Gräfin, die das Geheimnis der ominösen «tri karty» kennt. Hanna Schwarz gibt der «Dame de Pique» mit leiser, brüchiger Stimme und grosser schauspielerischer Magie das eindringliche Doppelgesicht einer Lebedame, die sich – wie ihre spätere Opernschwester Elina Makropulos – unter ihrer schrillen Perücke als kahlköpfige Moribunde entpuppt. Ihr nächtliches Treffen mit Hermann wird zum finalen Liebesakt: der Tod und das Mädchen, surreal gespiegelt und zur Groteske verzerrt – ein Höhepunkt des Abends.

Komm, o Tod: Wie später Leoš Janáčeks Elina Makropulos mag die Gräfin (Hanna Schwarz) nicht länger mit ihrem Geheimnis leben – Hermann (Brandon Jovanovich) erscheint ihr als Erlöser. (Bild: Andreas Schaad / EPA)

Komm, o Tod: Wie später Leoš Janáčeks Elina Makropulos mag die Gräfin (Hanna Schwarz) nicht länger mit ihrem Geheimnis leben – Hermann (Brandon Jovanovich) erscheint ihr als Erlöser. (Bild: Andreas Schaad / EPA)

Neuenfels misstraut auch dem Wahnsinn Hermanns und entlarvt ihn als Projektion der Aussenwelt. Brandon Jovanovich, stimmlich am Premierenabend noch etwas unfrei in der Höhe, aber mitreissend in seinem eskalierenden Fanatismus, zeichnet ihn als Outcast, der von seinen reichen adligen «Freunden» gedemütigt wird. Anders als sie muss er gleichsam seine ganze Existenz auf eine Karte setzen, um die Chance seines Lebens – Lisa, die aufrichtig-unbedingt Liebende (etwas verhalten, aber anrührend: Evgenia Muraveva) – doch noch zu gewinnen. Dass er sich in diesem doppelten Spiel so gründlich verzockt, überhöht die leicht unsympathisch wirkende Figur des Spielers zur wahrhaft tragischen Gestalt. Neuenfels unterminiert indes auch diese Verklärung: Am Ende sitzen die Mitspieler beim traurigen «Game of Life» in ihren schwarzen Schafspelzen da, aufgereiht um den leeren Spieltisch wie zum letzten Abendmahl. Und sehen aus wie gründlich begossene Pudel.