Was für Bayreuth Richard Wagner ist, ist für Salzburg Wolfgang Amadeus Mozart: ein Mythos, an dem man sich abarbeiten muss. In Salzburg ist es insbesondere die „Zauberflöte“, die Dirigenten und Regisseure immer wieder neu heraus- und auch überfordert. Gerade weil das Stück so populär ist, sind die Erwartungen hoch. Zugleich ist die „Zauberflöte“ voller Brüche – musikalisch, dramaturgisch, logisch. Eine stringente Bühnengeschichte daraus zu machen, ist fast unmöglich.

Zur Eröffnung der Salzburger Festspiele hat sich Lydia Steier an diese Aufgabe gewagt. Und siehe da: Der US-Regisseurin gelingt eine fantasievolle, bunte und über weite Strecken unterhaltsame Lesart. Ihr Ansatz ist ebenso überraschend wie einleuchtend: Sie erfindet einen Erzähler (für den erkrankten Bruno Ganz sprang Klaus Maria Brandauer ein). Er, der Großvater dreier Jungen einer großbürgerlichen Familie aus dem frühen 20. Jahrhundert, liest seinen Enkeln eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Sie heißt „Die Zauberflöte“.

Der Großvater (Klaus Maria Brandauer) liest seinen Enkeln (gespielt von drei Wiener Sängerknaben) "Die Zauberflöte" als ...
Der Großvater (Klaus Maria Brandauer) liest seinen Enkeln (gespielt von drei Wiener Sängerknaben) "Die Zauberflöte" als Gute-Nacht-Geschichte vor. | Bild: Barbara Gindl / APA / dpa

Bald stecken die drei Jungen mittendrin in der Fantasiewelt. Ihr Schlafzimmer wird zum Schauplatz der „Zauberflöte“. Schon stürzt der nach Hilfe schreiende Tamino (Mauro Peter) durchs Fenster, weil er von einem feuerspeienden Drachen verfolgt wird. Die Jungs finden das natürlich klasse.

Und wie das so ist bei Kindern: Die Geschichte wird in Bezug zur eigenen Realität gesetzt. Die meisten Menschen aus der Familie, die wir mitsamt ihren Bediensteten in der Ouvertüre beim Abendessen beobachten konnten, tauchen nun als Figuren der „Zauberflöte“ wieder auf. Die drei Gouvernanten werden zu den „Drei Damen“, die Mutter wird zur Königin der Nacht – und die Jungen werden als die „Drei Knaben“ ebenfalls zu einem Teil der Geschichte. Die drei Wiener Sängerknaben sind somit fast ständig auf der Bühne präsent und gefordert wie die Alten. Chapeau!

Steiers Ansatz verfängt auch deswegen, weil ihre überschäumende Fantasie die Bühne im Salzburger Festspielhaus spielend und mit viel Liebe zum Detail füllt. Sarastros Reich ist ein Zirkus, bevölkert von Clowns, Akrobaten und Jongleuren (Kostüme: Ursula Kudrna). Pamina, die hier gefangen gehalten wird, ist den Messerwerfern ausgesetzt.

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Ganz geheuer ist einem dieses schräge Völkchen bis zum Schluss nicht – da mag Sarastro noch so sehr von Menschlichkeit und Liebe reden. Allerdings versucht Steier auch nicht, diese Welt zu erklären und die logischen Brüche zu glätten. Sie belässt sie so, wie sie in Märchen ja auch häufig anzutreffen sind.

All das funktioniert im ersten Teil sehr gut. Im zweiten Teil allerdings fällt das Stück dann doch zunehmend auseinander, wird die kunterbunte Welt immer mehr zur Revue. Einen Dreh ins Ernsthafte bekommt noch die Prüfungsszene: Tamino und Pamina werden als Brautpaar den Schrecken des nahenden Ersten Weltkriegs ausgesetzt, der in Bildern an ihnen vorbei läuft. Wenn ihre Liebe diesen Krieg übersteht, haben sie es wohl geschafft.

Constantinos Cyradis am Pult der Wiener Philharmoniker setzt meist auf rasche, manchmal auch gehetzte Tempi, gelegentlich bremst er auch über Gebühr. Das ist nicht immer schlüssig, trotzdem kann man sich an dem klaren, an der historischen Aufführungspraxis orientierten Klangbild freuen.

Die russische Opern-Sängerin Albina Shagimuratova als Königin der Nacht und der Schweizer Opern-Sänger Mauro Peter als Tamino.
Die russische Opern-Sängerin Albina Shagimuratova als Königin der Nacht und der Schweizer Opern-Sänger Mauro Peter als Tamino. | Bild: Barbara Gindl / APA / dpa

Auch das Solisten-Ensemble lässt wenig Wünsche offen. Mauro Peter ist ein Tamino mit Schmelz in der Stimme, Christiane Karg eine angenehm lyrische Pamina. Höhen- und koloratursicher ist Albina Shagimuratovas Königin der Nacht. Adam Plachetkas Papageno bleibt in dieser Fassung, die viele Dialoge durch den Erzähler ersetzt, etwas unterbelichtet. Matthias Goerne als Sarastro ist eine Fehlbesetzung, weil ihm als (eigentlich geschätzten) Bariton die Schwärze fehlt, die notwendig wäre.

Insgesamt verschiebt die bildgewaltige Inszenierung den Schwerpunkt hin zur Optik. Man kann sich darin verlieren wie in einem Wimmelbuch. Gut möglich, dass diese Produktion zu einem Publikumsliebling werden wird.

Erotik als Exponat

Ist Lydia Steiers „Zauberflöte“ ein Augenschmaus, so ist die neue „Salome“, die anderntags Premiere hatte, vor allem ein Ohrenschmaus. Allein die litauische Sopranistin Asmik Grigorian in der Titelrolle macht sie zu einem Ereignis. Die zierliche Frau wirkt in der Stimme jugendlich genug, um ihr die schöne Herodias-Tochter abzunehmen, auf die selbst der Stiefvater Herodes (John Daszak) scharf ist. Sie bringt aber gleichzeitig die Wucht und Ausdruckskraft auf die Waage, die für diese Schwergewichtspartie unerlässlich ist.

Auch aus dem Orchestergraben strömt es schwelgerisch und transparent zugleich. Das ist das Verdienst von Franz Welser-Möst am Pult der Wiener Philharmoniker, der sich hier einmal mehr als idealer Richard-Strauss-Dirigent bewährt. Allein für die Musik hat sich die Aufführung gelohnt – egal, was man auf der Bühne sieht. Die Inszenierung von Romeo Castellucci wirkt auf den ersten Blick spröde: Der Regisseur, der sein eigener Ausstatter ist, setzt auf Reduktion und auf Zeichenhaftigkeit. Stilisierte Gesten und rätselhafte Bilder dominieren das Geschehen. Salome hat auf ihrem weißen Kleid hinten einen roten Fleck. Menstruationsblut als Zeichen ihrer Geschlechtsreife? Oder hat der Stiefvater sie vergewaltigt?

Die litauische Sopranistin Asmik Grigorian überzeugt in Salzburg als Salome – hier mit dem kopflosen Jochanaan.
Die litauische Sopranistin Asmik Grigorian überzeugt in Salzburg als Salome – hier mit dem kopflosen
Jochanaan. | Bild: Salzburger Festspiele / Ruth Walz

Gemäß dem Motto, Kunst dürfte sich nicht darauf beschränken, das Darstellbare darzustellen, sondern sie müsse das einfangen, was in der Darstellung nicht präsent ist, zeigt Castellucci zwei zentrale Szenen wie einen Negativ-Abzug. Den Schleiertanz, mit dem Salome sich von Herodes den Kopf des Jochanaan (Gábor Bretz) erzwingt, verbringt sie fast nackt und bewegungslos zusammengekauert wie das Exponat auf einem Podest. Doch was wie das Gegenteil von Tanzen aussieht, bringt dessen Kern – die Erotik – erst auf den Punkt.

Ähnlich bekommt Salome den Kopf des Jochanaan nicht auf einem Silbertablett serviert. Stattdessen sitzt schließlich ein kopfloser Mann auf einem Stuhl vor ihr – eine wiederum ebenso überraschende wie wirkungsvolle Idee. Selten erschließen sich die Bilder Castelluccis auf Anhieb, aber wer sich auf sie einlässt, dem geben sie doch noch ihre Bedeutungsschichten frei. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

Was SÜDKURIER-Redakteurin Elisabeth Schwind auf dem Weg zur "Salome"-Premiere erlebt hat, lesen Sie hier.