Lohengrin und Lenin – der 39-jährige amerikanische Regisseur Yuval Sharon spricht einen gewagten Vergleich gelassen aus. Beide, der Held aus Richard Wagners Oper wie der russische Revolutionär, seien "visionäre Führer, die ein Ideal verkörpern und doch von Widersprüchen zerrissen werden". Das Ziel einer sozialen Gleichberechtigung von Frau und Mann, führt der Bayreuth-Debütant im Programmheft zur diesjährigen Neuinszenierung aus, "konnten weder Lenin noch Lohengrin in ihrem Privatleben realisieren".

Man muss schon ziemlich von Richard Wagners Gedankendunst benebelt sein, um auf solche Analogien zu kommen. In der Oper geht es schließlich nicht darum, die bestehende Weltordnung umzustürzen und dem Kapitalismus eine Alternative entgegenzusetzen, sondern lediglich darum, dass ein Gralsritter, der nach Brabant entsandt wird, um dort die Ehre einer unschuldig Verurteilten zu retten, aufgrund der Regeln seiner Sekte Heldentaten lediglich inkognito ausführen darf.

Doch sei's drum, die Schlussfolgerung, die Yuval Sharon für seine Interpretation zieht, ist nicht uninteressant. Der Versager in dem Stück ist für ihn nämlich nicht Elsa, die das Nie-sollst-du-mich-befragen-Gebot bricht, sondern Lohengrin selber. Einen "tragischen Exponenten der Unvollkommenheit" nennt der Regisseur ihn, weil er sowohl vom Volk wie von seiner Ehefrau Elsa unbedingten Gehorsam fordert. Mit dem Argument, dass man ihm eben einfach vertrauen müsse, lässt er keine Fragen nach seiner Herkunft oder seiner Legitimation zu.

Liebesbeziehungen aber können ohne Offenheit auf beiden Seiten nicht funktionieren. Die fordert Elsa jedoch ein, wenn sie die verbotene Frage stellt – und emanzipiert sich damit, befreit sich aus der Rolle der Gefährtin, die ihrem Herrn blind folgt. So gesehen, postuliert Sharon, ist Lohengrin die Geschichte zweier starker Frauen. Denn auch Ortrud, Elsas Gegenspielerin, will nicht im Schatten ihres Mannes Telramund stehen. Nachdem er im Gotteskampf gegen Lohengrin verloren hat, ergreift Ortrud die Initiative, ja verhilft mit ihrem Racheplan Elsa erst zur geistigen Erweckung, gibt ihr die Kraft, auf Augenhöhe mit Lohengrin zu verhandeln.

Wenn Bildende Künstler dilettieren

Schade nur, dass dieser Interpretationsansatz während des langen Abends lediglich einmal aufblitzt. Wenn nämlich Lohengrin im Brautgemach versucht, die wissbegierige Elsa nicht mehr nur mit Worten, sondern ganz konkret mit einem Seil an sich zu fesseln. Wie sie sich wehrt und windet, wenn sie insistiert, sich schließlich frei machen kann, das ist eine starke Szene. Auch, weil Anja Harteros stimmlich keine "junge Naive" ist, die sich mit jungfräulicher Reinheit verströmt. Deutlich hörbar hat diese Elsa schon viel erlebt, die Vielfarbigkeit von Anja Harteros' Sopran hat auch ihre Schattenseiten, kündet von früheren Verletzungen. 

Piotr Beczala dagegen, der die Titelpartie kurzfristig von Roberto Alagna übernommen hat, wirbt mit weichem Tenor um das Vertrauen, das er für seine Mission braucht, umgarnt Elsa mit einschmeichelnden Tönen, eleganter Phrasierung, ja geradezu belcantistischer Klangschönheit. Hier steht einer, der es richtig machen will und der doch an der Gesellschaft scheitert, deren Repräsentant er ist. Im Finalbild, bei der Gralserzählung, wenn Lohengrin endlich von sich und dem "fernen Land, unnahbar euren Schritten" berichtet, wird bei Beczala keine Wut zu hören sein, sondern ehrliche Trauer. Dafür wird er vom Premierenpublikum ebenso gefeiert wie Anja Harteros.

Zwei interpretatorisch lichte Momente sind das in einer Inszenierung, die ansonsten in der Personenführung so konventionell daherkommt, als sei hier der legendär altfränkische Bayreuthprinzipal Wolfgang Wagner selbst am Werk gewesen. Da werden Hände gerungen wie anno dazumal, da wird hoheitsvoll geschritten, da streuen Blumenmädchen minutenlang Papierschnipsel, während der Chor seitlich im symmetrischen Arrangement verharrt. Sicher, Yuval Sharon hatte es nicht leicht. Denn er ist erst 2016 zum Inszenierungsteam gestoßen, als Ersatz für den ursprünglich engagierten Alvis Hermanis. Da hatte sich Neo Rauch bereits vier Jahre lang in den Lohengrin eingehört – und festgelegt, dass diese Oper blau ist. Bei den Kostümen, den Dekorationselementen, dem Rundprospekt im Hintergrund, überall dominieren Blautöne. Als einzige Kontrastfarbe ist ein giftiges Orange zugelassen, das an bleihaltiges Mennige-Rostschutzmittel erinnert. 

Den Malerstar der Neuen Leipziger Schule zusammen mit seiner Frau Rosa Loy für die Ausstattung zu verpflichten, war ein medienwirksamer Coup von Festivalchefin Katharina Wagner, die Neugier auf Rauchzeichen aus Bayreuth auch bei Nichtwagnerianern groß. Doch wie so oft, wenn Bildende Künstler als Bühnenbildner dilettieren, will es so recht nicht klappen mit dem Sprung ins Dreidimensionale. Sie hätten sich "beizeiten auf ein klassisches Kulissentheater kapriziert", erklärte das Ehepaar im Vorabinterview mit der ZEIT, und dabei bewusst das Risiko in Kauf genommen, "etwas Vorstadtbühnenhaftes zu elaborieren".