Bayreuther Festspiele: Da flieht Elsa lieber mit Horn und Ring

Zur Eröffnung des Wagner-Festivals bebildern Neo Rauch und Rosa Loy den «Lohengrin». Stimmiger als diese durch und durch hybride Produktion gerät allerdings die allererste Uraufführung der Festspiele seit anderthalb Jahrhunderten.

Christian Wildhagen, Bayreuth
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«Treulich geführt» vor dem Brautgemach in der Trafostation: Richard Wagners «Lohengrin» im Bühnen- und Kostümbild von Rosa Loy und Neo Rauch in Bayreuth 2018. (Bild: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele)

«Treulich geführt» vor dem Brautgemach in der Trafostation: Richard Wagners «Lohengrin» im Bühnen- und Kostümbild von Rosa Loy und Neo Rauch in Bayreuth 2018. (Bild: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele)

Eines muss man ihr lassen: Sie hat ihr Haus im Griff. Jetzt, endlich, nach bald einem Jahrzehnt an der Spitze der Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth. Das war nicht unbedingt zu erwarten, denn der Start von Katharina Wagner, die 2008 für diese herausragende Position wenig mehr mitbrachte als eben ihren grossen Namen, war holprig und wurde dementsprechend von der Fachkritik mit Häme und teilweise brutaler Härte beurteilt. Doch nach der langen Ära ihres Vaters Wolfgang hat die mittlerweile vierzig Jahre alte Urenkelin Richard Wagners inzwischen genau das getan, was man von jedem Nachfolger in der Festspielleitung erwarten musste: Sie hat die Wagner-Festspiele, noch immer das traditionenschwerste und eigentümlichste Opernfestival der Welt, in jeder Hinsicht geöffnet – in der Kommunikation, in der medialen Vermarktung, auch punkto Zugänglichkeit und Breitenwirkung.

Wagners Festspielhaus auf dem Grünen Hügel erscheint heute kaum mehr als jener hermetische Kunstort für Eingeweihte, den orthodoxe Wagnerianer, diese delikate Spezies, lange darin erblickten. Die Festspiele – das war für ihr Fortbestehen unausweichlich – sind in der Gegenwart angekommen. Zwar hapert es noch immer an einer klar umrissenen Dramaturgie und einer dezidiert eigenen Ästhetik, die Bayreuth vom Mainstream der anderen grossen Bühnen in der Welt abheben würde. Indes hat Katharina Wagner mit dem immens erfolgreichen Projekt einer «Kinderoper», die heuer ebenfalls ins zehnte Jahr geht, immerhin starke Akzente in der Nachwuchsarbeit gesetzt. In dieser Saison ist nun ein weiterer Bau- und Meilenstein hinzugekommen: Zum ersten Mal seit der Premiere von Wagners «Parsifal», seit 1882, zeigt Bayreuth eine Uraufführung.

Neue Nebenspielstätte

Wegen der gestrengen Festspielsatzung, die das Festspielhaus der Musik des Meisters vorbehält, musste die Aufführung von Klaus Langs Auftragswerk «der verschwundene hochzeiter» allerdings im Kulturzentrum «Reichshof» stattfinden. Die sinnvolle und eigentlich geplante Kooperation mit dem unlängst zum Weltkulturerbe erhobenen Markgräflichen Opernhaus war zuvor an – wenig einleuchtenden – Denkmalschutzproblemen gescheitert. Doch mit dem «Reichshof», einem ehemaligen Kino in der Altstadt, strotzend vor atmosphärischer Patina, ist den Festspielen unverhofft eine überaus reizvolle Nebenspielstätte mit adäquater Akustik zugewachsen, die unbedingt für weitere Projekte erhalten werden sollte.

Klaus Lang hat sich für seinen rund hundertminütigen Einakter von einer Sage aus dem Gölsental in Niederösterreich inspirieren lassen, die – ungewöhnlich genug – eine Parabel ohne Lehre ist. Sie erzählt in archaischen, teilweise biblisch getönten Bildern von Schuld und Erlösung und vom Verschwinden eines Mannes, drei Tage nach der Hochzeit, in den Tiefen von Zeit und Erinnerung. Als der Mann – und wir mit ihm – aus der Bilder- und Zeitschleife wiedererwacht, kennt ihn in seinem Dorf niemand mehr. Dreihundert Jahre sind vergangen, und der abtrünnige Hochzeiter zerfällt zu Staub: «was sind wir als staub im wind», lautet der letzte Satz in Langs selbstverfasstem Libretto.

Lang hat zu dem vieldeutigen Geschehen eine auf die Sekunde genau durchgetaktete Musik komponiert, die deshalb nicht von einem Dirigenten koordiniert wird, sondern von digitalen Metronomen via Bildschirm im Zuschauerraum. Wundersamerweise bemerkt man all die dahinterstehende Konstruktion mit raffinierten Zahlenproportionen und Spiegelachsen beim Hören überhaupt nicht. Langs überwiegend neo-tonale, gleichermassen an New-Age- wie an Renaissanceklänge gemahnende Cluster-Musik entfaltet vielmehr einen verhalten anlaufenden, dann aber umso intensiveren Sog, eine Art meditativen Bewusstseinsstrom, der die Hörer – gelungenen Aufführungen des «Parsifal» durchaus vergleichbar – in tranceartige Schwebe versetzt und dennoch hellwach hält.

Kongeniale Inszenierung

Entscheidenden Anteil an dieser tiefenentspannten Spannung hat die wahrhaft kongeniale Inszenierung von Paul Esterhazy, der die palindromische Handlung gemeinsam mit dem Videokünstler Friedrich Zorn in einen betörend irrealen Raum entrückt. Die beiden bedienen sich dazu eines alten Theatertricks, der als «Pepper’s Ghost» in die Requisitenkiste eingegangen ist. Er lässt Videoprojektionen mithilfe einer transparenten, schräg zur Bühne aufgespannten Folie dreidimensional und so frappierend echt im Raum erscheinen, als wären sie real.

Esterhazy treibt ein virtuoses Spiel mit den projizierten Doppelgängerfiguren des Hochzeiters, der auf diese Weise immer wieder sich selbst begegnet, sich aufspaltet und wieder mit sich selber verschmilzt. Und er treibt es sogar auf die Spitze, indem er nach der Peripetie des Stückes, als die Zeit gleichsam rückwärts zu laufen beginnt, auch noch einen realen Doppelgänger von Jiří Bubeníček, dem Darsteller des Hochzeiters, auf die Bühne zaubert, nämlich dessen Zwillingsbruder Otto. Die beiden langjährigen Solisten der Hamburger Ballettkompanie sind perfekt in solchen Double-Rollen, denn sie sehen einander so ähnlich, dass man bald nicht mehr weiss, wer gerade wer ist. Hier sind die beiden zwar durch die Kostümfarben unterschieden, doch dies bricht den Reiz nur und potenziert ihn zugleich. Das Ergebnis ist denn auch weniger eine illusionistische Verwirrung der Sinne als eine zur Einsicht führende Verzauberung von Auge, Herz und Ohr – das Beste mithin, was ein Opernabend beim Zuschauer erreichen kann.

Die Gans, der man das Fragen verbot

Ein wenig mehr davon hätte man auch der eigentlichen Eröffnungspremiere gewünscht, der Neuinszenierung von Richard Wagners «Lohengrin» im Festspielhaus. Die Produktion war wegen des als Ausstatterduo beteiligten Künstlerpaares Rosa Loy und Neo Rauch bereits im Vorfeld Gesprächsthema in der Opernwelt – ebenso wegen mehrerer bemerkenswerter Absagen, darunter der ursprüngliche Regisseur Alvis Hermanis, der sich früh mit einer unsäglich politisch verbrämten Erklärung selber aus dem Spiel nahm, zudem Anna Netrebko für die Rolle der Elsa (sie soll dem Vernehmen nach nun 2019 in einigen Vorstellungen singen) sowie der Tenor Roberto Alagna, der beim Erlernen der Titelrolle nach eigenem Bekunden vor allem an der Sprache gescheitert war. Auch dies spricht indes für Katharina Wagners gewachsene Erfahrung in der Festspielleitung: dass sie solche Schläge ins Kontor mittlerweile, unbeeindruckt vom branchenüblichen Krisengeraune, recht souverän zu meistern versteht.

Piotr Beczała als Lohengrin. (Bild: Bayreuther Festspiele)

Piotr Beczała als Lohengrin. (Bild: Bayreuther Festspiele)

Mit dem in Zürich bestens bekannten Piotr Beczała hatte sie obendrein eine überaus glückliche Hand – er war vermutlich immer schon die bessere Wahl für die Titelpartie. Im merklich bei allen Beteiligten von Nervosität beeinträchtigten ersten Akt fehlt es Beczała zwar noch an vollem Glanz in der Höhe. Je negativer die Regie jedoch die Führer- und Erlösergestalt des Schwanenritters zeichnet, umso mehr Leuchtkraft gewinnt bei ihm die exponierte Lage bis zum vielstrapazierten hohen A, besonders eindringlich in der sensibel gestalteten Gralserzählung des dritten Aufzugs.

Anja Harteros als Elsa. (Bild: Bayreuther Festspiele)

Anja Harteros als Elsa. (Bild: Bayreuther Festspiele)

Beczała durchläuft damit eine ähnliche vokale Entwicklung, wie sie Anja Harteros bei ihrem Hügel-Debüt gestalterisch wohl bewusst verfolgt: Sie singt die Elsa anfangs mit einer eigenartig herben, etwas brüchigen Mädchenstimme und lässt die sprichwörtliche dumme Gans, der man das Fragen verbot, erst im Brautgemach zur selbstbewussten Frau erblühen. Erst hier, im dritten Akt, wird sie glaubhaft zu einer Erkennenden, die bewusst aus ihrer klischierten Rolle tritt und so diesmal sogar das Ende überleben darf. Das krude Geschehen durchschauend, sucht sie mit Ring und Horn im orangefarbenen Tornister schleunigst das Weite.

Übergewaltige Bilderwelt

Yuval Sharon, neben Harteros und Beczała der dritte Retter in der Not, hat noch ein paar mehr solcher Regie-Ideen im Köcher; sie haben freilich neben der übergewaltigen Bilderwelt von Loy und Rauch kaum eine Chance, sich theatralisch schlüssig zu entwickeln. Zum Glück bleibt Bayreuth das Debakel erspart, das sich die Bayerische Staatsoper unlängst mit der papierenen «Parsifal»-Bebilderung von Georg Baselitz einhandelte. Doch dass die offenbar tiefschürfend reflektierte, mit allerlei Romantik und Farbensymbolik angereicherte Szenerie und das über weite Strecken biedere, ermüdend oft auf die Zentralperspektive fixierte Stehtheater im weiten Bühnenrund sinnstiftend (und nicht bloss illustrierend) ineinandergriffen – davon kann auch hier keine Rede sein.

Waltraud Meier als Ortrud. (Bild: Bayreuther Festspiele)

Waltraud Meier als Ortrud. (Bild: Bayreuther Festspiele)

Viele handwerkliche Ungeschicklichkeiten wären dringend fürs nächste Jahr nachzuarbeiten, etwa die Licht- und vor allem die Chorregie. Da verharrt der – von Eberhard Friedrich auf überragende Textdeutlichkeit getrimmte – Festspielchor unbeholfen gestikulierend und winkend in zwei immergleichen Halbreihen wie zu weiland Wolfgang Wagners Zeiten. Der Beginn des zweiten Aktes versinkt dagegen vor abermals spektakulär gemaltem Rückprospekt à la Nolde und van Gogh nahezu im Dunkeln, während die Szene vor dem Münster wiederum im konventionellen Tableau erstarrt.

Die als Bayreuth-Rückkehrerin gefeierte Waltraud Meier versucht mit ihren kraftvollen, an einigen Stellen stimmlich chargierenden Auftritten als Ortrud immerhin zu retten, was an genuin theatralischer Spannung eben zu retten ist. Auch der gewohnt genau gestaltende Georg Zeppenfeld gibt dem König Heinrich über die Herrscherattitüde hinaus die Tiefe des stillen Zweiflers. Und nicht zuletzt Christian Thielemann, der «Lohengrin» zum ersten Mal auf dem Grünen Hügel dirigiert, setzt dem Auf und Ab der Szene eine erstaunlich feinsinnige, schon im traumwandlerisch zelebrierten Vorspiel subtil verschattete Lesart mit dem Festspielorchester entgegen. Gleichwohl, ein stimmiges Ganzes ergibt das alles nicht, vom hier so naheliegenden «Gesamtkunstwerk» zu schweigen. In Bayreuth war man damit schon entschieden weiter.