Triumph der grauen Schläfen

Mehr Glamour und Altersweisheit sind selten auf einer Bühne versammelt: Anna Netrebko und Plácido Domingo singen in Berlin unter Daniel Barenboim in Harry Kupfers Neudeutung von Verdis «Macbeth» – und die Opernwelt steht kopf.

Eleonore Büning, Berlin
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Anna Netrebko hat als Lady Macbeth in Harry Kupfers Berliner Neuinszenierung alles verloren: Macht, Kind – und am Ende auch den Verstand. (Bild: Bernd Uhlig / Staatsoper Berlin)

Anna Netrebko hat als Lady Macbeth in Harry Kupfers Berliner Neuinszenierung alles verloren: Macht, Kind – und am Ende auch den Verstand. (Bild: Bernd Uhlig / Staatsoper Berlin)

Macht macht geil. Niemand weiss das besser als dieser greise schottische Warlord im fatalen Verbund mit seiner drallen jungen Lady, die sich kurz, aber heftig ansingen, einander anfeuern und aufstacheln zum nächsten Mord. Dann, als sie in die Cabaletta einbiegen, reissen sie einander die Kleider vom Leib und fallen übereinander her – er trägt bleichen, schlaffen Doppelripp unterm Militärhemd, sie ein schwarzes Nichts. Und schon verschwinden die beiden, zum Glück für uns alle, in der Versenkung, bevor die Sache richtig peinlich wird.

Freilich dürften nun einige der Politiker und Lobbyisten, die, wie es sich bei einer Staatsopern-Premiere in der deutschen Hauptstadt geziemt, zahlreich im ersten Rang versammelt sind, durchaus eine Ahnung davon haben, wie es weitergeht. Das ist der spezielle Kupfersche Realismus-Kick der alten Schule.

«Tanto sangue»

Inzwischen ist Harry Kupfer 83 Jahre alt. Er hat in unzähligen Regiearbeiten unverdrossen immer wieder versucht, gesellschaftliche Wirklichkeit auf der Opernbühne abzubilden, so drastisch wie möglich, so ästhetisch wie nötig, und hat dabei jedes Wort und jeden komponierten Ton auf die Goldwaage gelegt. Das kann schon einmal ins Surreale abkippen, ins Archetypisch-Märchenhafte oder Groteske. «Wer hätte gedacht, dass so viel Blut in dem alten Manne war», erinnert sich Lady Macbeth bei Shakespeare; «tanto sangue» seufzt sie am Ende der Oper von Giuseppe Verdi. Und deshalb sorgt Kupfer dafür, dass sich, nachdem König Duncan kurzerhand offstage ermordet worden ist, links aussen, direkt neben dem Bühnenportal, eine kleine rote Pfütze auf dem Boden bildet, die langsam wächst und zu einem See wird und irgendwann von niemandem im Hause mehr übersehen werden kann: ein Menetekel.

Andere wohlbekannte Kupfer-Einfälle reichen in jene Souterrain-Zone des öffentlichen Unterbewusstseins, in der tiefere Wahrheiten hausen. Unvergessen, wie einst die Knaben seiner «Zauberflöte» aus der Kanalisation einer Grossstadt auftauchten, drei ordinäre Lausbuben, den Gullydeckel hebend. Diesmal, in «Macbeth», trabt zwar kein Einhorn durch das vom Krieg der Clans verwüstete Hochland; dafür schreitet gleich zu Beginn Walter Benjamins «Engel der Geschichte» barfuss durchs Inferno. Geht vorwärts, bahnt sich den Weg durch Explosionen, Rauch und Feuer, hält das Kind im Arm, das der Familie Macbeth versagt bleiben wird, und reckt das erhobene Schwert in der Linken.

Dieser Engel ist die Lady, ist Anna Netrebko. Sie singt, volltönend, giftgeifernd, guttural: «O voluttà del soglio! O scettro, alfin sei mio» – «Oh Wollust des Thrones! Oh Zepter, endlich gehörst du mir!» Ihr Ehemann auf der Bühne, der eigentliche Zepterbesitzer, ist zwar sichtlich nicht mehr der Jüngste, offiziell erst 77, inoffiziell indes wohl fast so alt wie der Regisseur. Doch den stählernen Kern und die Kraft seiner Stimme hat sich Plácido Domingo bewahren können. Technik und Stütze sind nach wie vor vorbildlich vorhanden, und sogar einen gewissen erotischen Schmelz, den er einst als Tenor verströmte, kann man in dieser seiner neuen schweren Baritonpartie wahrnehmen.

Das sorgt für erstaunliche Glanzlichter: Selten gab es, in Erscheinung und Ausdruck, einen so glaubhaft starken, zugleich an sich zweifelnden, zynisch zerrissenen Macbeth zu hören, nur mit etwas zu viel Wobble, auf Dauer. Der Tenor Fabio Sartori als junger Held Macduff, der ihn am Ende besiegen wird, tönt vergleichsweise brav eindimensional. Freund Banquo, vertreten durch den sonor unauffälligen Kwangchul Youn, hat ebenfalls graue Schläfen. Ja, auch Duncan und Malcolm, neben der gesamten lamettabehangenen Militärclique, die sich in diesem wilden Land voll ausgebrannter Ruinen um die Herrschaft balgt, scheinen hoffnungslos überaltert zu sein. Der mit Abstand Jüngste in dem die Netrebko umschwärmenden Altmännerbund dieser Produktion aber steht im Orchestergraben, er ist es, der den Abend recht eigentlich zum Triumph führt.

Wie auf Sturmwolken

Daniel Barenboim, 75, nimmt sich die Zeit. Er schlägt einen gelassen grossen Bogen. Von den ersten, schlangengleich sich windenden Holzbläsersoli bis hin zum letzten, stürmischen Fugato scheint dieses beispielhaft dicht gefügte Verdi-Stück wie aus einem Atem zu fliessen und aus einer zwingenden Logik heraus entwickelt, mit all seinen charakteristischen Farben, den (kammer-)musikantischen Pointen, in zauberischer Leichtigkeit. Staatskapelle und Staatsopernchor, dem mit Hexen- und Mörderchor die am stärksten operettenhaften Parts zufallen, zeigen sich in Bestform, die Solosänger schweben wie auf Sturmwolken.

Erst trennt eine Art Viehgatter, wie in einem alten Western, die Szenen einer Ehe von der Aussenwelt. Nach und nach wird dann die Trennung von Innen und Aussen aufgehoben, die Hexen dringen in Macbeths Schlafzimmer ein. Als die Lady wahnsinnig wird, ist sie schon Teil der banalen, wie von Kinderhand mit Fingerfarben gemalten Eiswüste, die das schicke Appartement umgibt, und erstickt. Barenboim dehnt und dimmt unterdessen Tempo und Dynamik dergestalt, dass Anna Netrebko alle agogischen Freiheiten der Gestaltung restlos auskosten kann. Bis ins Pianissimo zurückgenommen wirkt der Schrecken. Bis zum Herzstillstand eingefroren die Verzweiflung – eine atemberaubende Darbietung. Eine Opernsternstunde.

Während anschliessend die Mitwirkenden drinnen im Opernhaus in Applaus und Blumen versinken, ist die Horrorstory draussen vor der Tür noch voll im Gange. Zeitversetzt nämlich war die Premiere gratis auf den Bebelplatz übertragen worden, in höchstauflösender Qualität, und rund 22 000 fussballresistente Menschen hatten im Angesicht der blutrünstigen Tragödie fröhlich gepicknickt. «Staatsoper für alle» heisst dieses Projekt – ein nicht ungefährlicher Titel. Denn er räumt mehr oder weniger offen ein, dass die Genüsse der Hochkultur in einem Opernhaus wie diesem übers Jahr eben gerade nicht für alle da sind, sondern nur für einige wenige. In diesem Fall aber meint man es gut, sogar mit den Opernfans ausserhalb von Berlin: Am Donnerstag ist die Produktion von 20 Uhr 15 an auf Arte zu sehen.

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