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Lulu. Premiere 16.06.2018 // Rebecca Nelsen (Lulu), Patrick Vogel (Der Maler). Foto: © Tom Schulze
Lulu. Premiere 16.06.2018 // Rebecca Nelsen (Lulu), Patrick Vogel (Der Maler). Foto: © Tom Schulze
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Achtung Aufnahme! – Oper Leipzig mit Alban Bergs „Lulu“

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„Lulu“ ist ein Schlüsselwerk der Moderne. Als Alban Berg 1935 starb hinterließ er seine letzte Oper nach Frank Wedekinds Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ als Fragment. Friedrich Cerha hat die Oper über die Frau, deren Männer ihr zum Opfer fallen und die am Ende von Jack the Ripper selbst umgebracht wird, 1979 vollendet. Meistens wird sie heute in dieser nachträglich komplettierten Fassung gespielt. In Stein gemeißelt ist das dennoch nicht. Ab und an versucht sich ein Komponist neu am so reizvollen wie undankbaren Ergänzungswerk.

Wie etwa der experimentaffine Eberhard Kloke vor acht Jahren in einer von Stefan Herheim inszenierten Fassung in Kopenhagen. In Hamburg haben Christoph Marthaler und Kent Nagano in einer hochgelobten Inszenierung der vorigen Spielzeit nach dem Ende des von Berg vollendeten zweiten Aktes die Begleitung der Gesangsstimmen auf eine Geige und zwei Klaviere reduziert. Zusammen mit Johannes Harneit, Malte Ubenauf und Jochen Neurath hatten sie aus dem überlieferten Particell eine Fassung gemacht, die dichter an Bergs Original ist, als es jede Vollendung von fremder Hand sein kann. Um dabei nicht die Klangbalance zu verlieren und sich mit kühlen Sprödigkeit der Skizze zu verabschieden, hat man Bergs Violinkonzert mit dem Untertitel „Dem Andenken eines Engels“ als Epilog angefügt. 

Solche Experimente sind Ulf Schirmes Sache in Leipzig nicht. Der Leipziger Intendant und GMD steht als Dirigent schon allein deshalb zu dieser dreiaktigen Fassung, weil er sie 1983 als damals 24jähriger in Wien für Lorin Maazel einstudiert und dann als Einspringer übernommen hat. So etwas verbindet. In Leipzig demonstriert er jetzt mit dem Gewandhausorchester wie transparent, man dieses Werk aufleuchten lassen kann. Dabei scheut er sich auch nicht, das Katastrophische im Graben bis ins Extrem zu pointieren. Man staunt, wie laut Pauken eigentlich sein können, wenn sie es sollen. Die geradezu betörenden und verstörend schönen Orchesterpassagen entfalten immer wieder ihre Suggestionskraft. Bestechend ist aber auch das eigenwillige Ausscheren der Musik in den Parlandopassagen. 

Dass Schirmer als Dirigent mit Leidenschaft hinter dieser Musik steht, ist unüberhörbar und trägt den Abend. Als Intendant ist er sich aber mit Blick auf die Besucherzahlen offensichtlich nicht so sicher. Es sind nämlich nur drei Vorstellungen vorgesehen und zunächst auch erstmal keine Wiederaufnahme geplant. Sollten ihn die Leipziger mit ihrem Zuspruch enttäuschen bzw. positiv überraschen, dann wäre das Einlagern der Ausstattung jedenfalls kein allzu großes Problem. Bei Lotte de Beer (Regie), Alex Brok (Bühne), Jorine van Beek (Kostüme) und den Videokünstlern von Fettfilm geht es nämlich geradezu minimalistisch zur Sache. Von den bis zu acht bei Bedarf einschwebenden Stell- und Projektionswänden und ein paar Möbelstücken abgesehen, ist da nicht viel zu verstauen bzw. lässt sich auf einem Stick unterbringen.

Die Orte der Handlung (Wien, Berlin, Paris, London) oder die Zirkusmanege des Prologs werden mit projizierten Straßenszenen und Interieurs aus den Anfangsjahrzehnten des vorigen Jahrhunderts imaginiert. Wie auf einer gleichsam dauerflackernden Kinoleinwand werden Ortsangaben und Textpassagen, wie aus der Stummfilmzeit überliefert, integriert. Dazu gehören eingespielte Erinnerungen Lulus an eine Kindheit, die vom Missbrauch des Mädchens durch die Männer überschattet ist. Alban Berg hatte selbst in der Mitte seiner Oper eine Stummfilmeinspielung vorgesehen. Aus dieser Vorlage macht Lotte de Beer in Leipzig ein ästhetisches Prinzip für den Zugang zu einer der „gefährlichsten“ Protagonistinnen der Opern-Moderne.

So ist Lulu hier nicht nur eine Projektionsfläche für die Frauenbilder einer Männergesellschaft, die weibliches Selbstbewusstsein als Bedrohung empfindet, sondern eine Frau mit einer traumatisierenden Geschichte. Offenkundig wird das schon, wenn die grandiose Rebecca Nelsen allein und auf der weiten leeren Bühne steht und die Erinnerungsbilder über die Leinwand flackern. Hier bewährt sich die Perfektion des der Videokünstler Momme Hinrichs und Torge Møller von Fettfilm, die optisch die Atmosphäre dieses herausfordernden, durch zwei Pausen unterbrochenen, lohnenden Abends dominieren. Von „ihren“ Männern beeindrucken vor allem Patrick Vogel als junger Maler, Simon Neal als so gestanden souveräner wie fordernder Dr. Schön (und Jack the Ripper) und Yves Saelens als intensiver Alwa. Aber auch das übrige Personal von Kathrin Görings Gräfin Geschwitz bis zu Wallis Giuntas Gymnasiasten lassen sich auf Lotte de Beers intensive Personenführung ein und profilieren ihre Rollen, auch dann, wenn die nur sporadischen Texteinblendungen keine Hilfestellung leisten.

Das Leipziger Premierenpublikum jedenfalls nahm die Herausforderung dieser Produktion dankbar an.

  • Nächste Vorstellungen: (nur noch) 24. Juni und 1. Juli 2018

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