Die Oper flieht vor der Aktualität, auch dort wo sie sich aufdrängt

In zwei neuen Opern werfen George Benjamin und José María Sánchez-Verdú hochaktuelle Fragen auf – trotzdem macht sich das Heute bei den Uraufführungen in London und Schwetzingen rar. Woran liegt das?

Marco Frei, London 4 min
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In José María Sánchez-Verdús Oper «Argo» wird das Mittelmeer zur tödlichen Falle und die mythische Vergangenheit könnte Gegenwart werden. Könnte. (Bild: Elmar Witt)

In José María Sánchez-Verdús Oper «Argo» wird das Mittelmeer zur tödlichen Falle und die mythische Vergangenheit könnte Gegenwart werden. Könnte. (Bild: Elmar Witt)

Manchmal lohnt der Blick zurück. In seinem Traktat «Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?» von 1784/85 formulierte Friedrich Schiller einige Thesen, die an Aktualität und Brisanz nichts eingebüsst haben. So attestiert er der Bühnenkunst generell eine stabilisierende Wirkung auf die Gesellschaft, weil sie nicht zuletzt «lebendige Gegenwart» und «Wahrheit» aufzeigen könne. In diesem Sinn trage die Bühne zur Aufklärung des Publikums bei und befreie den Menschen von der Unmündigkeit.

Das idealistische Pathos, mit dem Schiller seine Thesen vertritt, mag etwas dick aufgetragen sein, aber: Es liegt viel universelle Gültigkeit in diesen Worten. Jedenfalls fällt auf, dass das Gros der neuen Kreationen im Musiktheater eine solche Haltung vermissen lässt. Statt die «lebendige Gegenwart» durchzuführen und gezielt aufzuklären, wird allzu oft die Flucht in die diffuse Mehrdeutigkeit kultiviert. Das ist oftmals nicht so sehr den Werken selber geschuldet, sondern den szenischen Umsetzungen.

Diffuse Mehrdeutigkeit

Mit diesem Dilemma hatten jetzt auch zwei gewichtige Uraufführungen zu kämpfen, nämlich: «Lessons in Love and Violence» von George Benjamin an der Royal Opera in London sowie «Argo» des Spaniers José María Sánchez-Verdú bei den Schwetzinger Festspielen. Beide Werke eint, dass die Stoffe auf den ersten Blick nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun haben. So bezieht sich der Text von Gerhard Falkner zu «Argo» auf den Argonautenmythos von Apollonios von Rhodos und die Odysseus-Dichtung von Homer.

Das Libretto von Martin Crimp zu «Lessons in Love and Violence» reflektiert hingegen die Tragödie «Edward II.» von Christoper Marlowe aus dem Jahr 1594, um sich auf das fatale Liebes- und Machtgefüge zu konzentrieren. Im Zentrum stehen der König und seine Frau Isabel, überragend gespielt von Stéphane Degout und Barbara Hannigan. Beide pflegen Affären: der König mit dem Emporkömmling Gaveston (Gyula Orendt) und Isabel mit Mortimer (Peter Hoare). Die Herrschenden werden zusehends von ihren Trieben beherrscht, so dass sie nicht nur sich, sondern dem gesamten Staat massiv schaden.

Mit skrupelloser Egomanie wird das eigene Wohl über alles gestellt, bis jedwede Ordnung in sich zusammenfällt. Ein zeitlos kritischerer Stoff lässt sich kaum denken, allerdings konzentriert sich die Regie von Katie Mitchell vor allem auf die Psychologie zwischen den Charakteren. Weil hier Liebe und Triebe eine zentrale Rolle spielen, hat Vicki Mortimer für die Bühne ein modernes Schlafzimmer entworfen, das sich von Szene zu Szene dreht. Am Ende sind der König und sein Geliebter tot, und schliesslich muss Isabel mit ansehen, wie Mortimer ermordet wird: auf Befehl ihres eigenen Sohnes, des neuen Königs (Samuel Boden).

Der Nachwuchs hat eben seine «Lektionen in Liebe und Gewalt» gelernt. Nicht aber unbedingt das Publikum, denn die politische Reichweite dieses Psychogramms wird allenfalls angedeutet, in Gestalt einer wachsenden Unordnung in dem Zimmer, die auch für den Zustand der Gesellschaft steht. Im Programmheft betont der Librettist Crimp, dass die «Lektionen nicht für das Publikum» bestimmt seien. Diese Oper sei kein «didaktisches Stück», und das ist grundsätzlich gut so. Allerdings hat die Regie die zeitkritischen Potenziale in dem Stoff auf ein Minimum heruntergestutzt.

Politik im Planschbecken

Das gilt leider ähnlich auch für «Argo» von Sánchez-Verdú. In diesem Musiktheater geht es um den Gesang der Sirenen, der Seefahrern den Tod bringt – auch den Argonauten auf dem Schiff Argo. Während der Orpheus von Alin Deleanu mit Altus-Stimme gegen die Sirenen ansingt, verschliesst der Odysseus von Brett Carter die Ohren seiner Mannschaft mit Wachs und lässt sich selbst an den Mast binden. Einer kann der Versuchung nicht widerstehen, nämlich Butes (Jonathan de la Paz Zaens). Er stürzt sich in die Fluten, findet in seiner Sehnsucht nach Freiheit, Erfüllung und dem Unbekannten den Tod, und auch hierin offenbart sich faktisch eine tagespolitische Aktualität.

In «Argo» von Sánchez-Verdú wird das Mittelmeer zur tödlichen Falle. Damit entlarvt der antike Stoff faktisch die Wirklichkeit, angesichts zahlloser Bootsflüchtlinge, die in den vergangenen Jahren im «Mare nostrum» jäh ertrunken sind. Das Mittelmeer war und ist ein Massengrab, und daran hat sich über Jahrtausende hinweg nichts geändert: eine grausige, ernüchternde Kontinuität. In ihrer Inszenierung umschifft Mirella Weingarten jedwede konkrete Deutung des Stoffes, um sich bald im Abstrakten zu verheddern.

Was bleibt, ist eine leere Bühne, in der ein Planschbecken das grosse Mittelmeer andeutet. Ursprünglich hätte Sabrina Hölzer, die jedoch zwei Wochen vor der Uraufführung erkrankte, Regie führen sollen. Ihre Inszenierung wäre womöglich etwas narrativer geworden, zugunsten einer kritischeren Aussage, wie sie in der Musik von Sánchez-Verdú deutlich angelegt ist. Hierfür sind die Blechbläser im Raum verteilt, was einen Stereoklang erzeugt. Mit dem Experimentalstudio in Freiburg hat Sánchez-Verdú überdies ein «Aulos» entwickelt, bestehend aus Oboe und Englischhorn, die mit Live-Elektronik verfremdet werden.

Es ist dieser Klang, der dem Gesang der Sirenen eine ungeheure Intensität und unmittelbare Dringlichkeit gibt. «Argo» von Sánchez-Verdú ist tatsächlich ein «Dramma in musica», wie die Partitur vermerkt, und dasselbe gilt für die neue Oper von Benjamin. In London hat Benjamin selbst das Orchester der Royal Opera dirigiert, so wie Sánchez-Verdú in Schwetzingen das SWR-Symphonieorchester. Bei Benjamin findet der eigentliche Horror in den orchestralen Zwischenspielen statt, die sich im Kolorit zusehends verdüstern und dramatisch verdichten. Hier wird deutlich artikuliert, was in der Inszenierung offenbleibt.

Kritische Diskurse

Es müssen nicht Bilder von Flüchtlingsbooten oder von politischen Gruselclowns des Heute eingeblendet werden, um klar Stellung zu beziehen. Allerdings reicht es auch nicht aus, unverbindliche Assoziationen in den Raum zu stellen. Mit ihren vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten kann gerade die Opernbühne zeitkritische Diskurse generieren. Ein neues Musiktheater, das inmitten von Populismus und drohender Entdemokratisierung nicht deutlich Position bezieht, manövriert sich selber ins Abseits: weil es keinerlei Relevanz entwickelt.

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