Die Widersprüche eines ganzen Jahrhunderts in nur zwei Opern

Zum 100. Geburtstag Gottfried von Einems stellt das Theater an der Wien dessen Dürrenmatt-Adaption «Der Besuch der alten Dame» neu zur Diskussion, die Wiener Staatsoper antwortet mit «Dantons Tod» nach Büchner.

Daniel Ender, Wien
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Der Fortschritt fordert Opfer, auch in Güllen: Gottfried von Einems Oper «Der Besuch der alten Dame» im Theater an der Wien. (Bild: Werner Kmetitsch / PD)

Der Fortschritt fordert Opfer, auch in Güllen: Gottfried von Einems Oper «Der Besuch der alten Dame» im Theater an der Wien. (Bild: Werner Kmetitsch / PD)

Zu Lebzeiten war Gottfried von Einem (1918–1996) zumal im österreichischen Musikleben omnipräsent. Nun bedurfte es der Feier seines 100. Geburtstags (und der Unterstützung der Gottfried-von-Einem-Musik-Privatstiftung), um sein Schaffen in gleich zwei repräsentativen Produktionen auf jene Bühnen zurückzuholen, von denen einst seine grössten Opernerfolge in die musikalische Welt hinausstrahlten. Im Sommer 1947 war «Componist», wie sich Gottfried von Einem selbst in eigenwilliger Schreibweise zeitlebens bezeichnete, mit der Uraufführung von «Dantons Tod» bei den Salzburger Festspielen berühmt geworden. Die Wiener Staatsoper zeigte dieses Werk im Herbst desselben Jahres in ihrem – infolge der Zerstörung des Stammhauses am Ring bezogenen – Ausweichquartier, dem Theater an der Wien; an jenem Ort also, an dem 1980 die Uraufführung der Mysterienoper «Jesu Hochzeit» unter wüsten Protesten konservativer Kreise über die Bühne ging.

Von den drei weiteren an der Staatsoper aus der Taufe gehobenen Bühnenwerken Einems ragt «Der Besuch der alten Dame» von 1971 hervor – nicht zuletzt, weil Friedrich Dürrenmatt selbst aus seiner bitterbösen Komödie ein prononciertes Libretto geschaffen hatte. Beide Werke reagieren überdeutlich auf die Katastrophen und Widersprüche des 20. Jahrhunderts. Einem selbst hat dies allgemein so ausgedrückt: «In meinen Opern geht es immer um Menschen in Extremsituationen, und das geht gar nicht anders, weil ich an den Konflikten meiner Figuren teilnehme.»

Eine Geschichte des Kapitalismus

Die noch unter der Herrschaft der Nationalsozialisten begonnene Oper «Dantons Tod» sah Gottfried von Einem freilich auch als «Abrechnung mit der jüngsten, eben erst verklungenen, schrecklichen Vergangenheit»; die Botschaft, die er mit seiner «Alten Dame» vermitteln wollte, war es, den Menschen dazu anzuregen, «in Bezug auf seinen eigenen Reichtum – geistig, körperlich, finanziell – etwas bescheidener (zu) werden» und «ein bisschen freundlicher zu sein».

Sowohl im Theater an der Wien als auch an der Wiener Staatsoper bemüht man sich nun, die Dringlichkeit der Aussagen beider Werke möglichst plastisch zu vermitteln. Regisseur Keith Warner erlaubt sich bei seiner «Alten Dame» im Theater an der Wien eine etwas freiere Lesart, indem er den Lauf der Handlung in der heruntergekommenen Kleinstadt Güllen mit der Geschichte des Kapitalismus seit der Nachkriegszeit verbindet und dessen immanente Dynamik aufzuzeigen trachtet: von der Wohlstandshoffnung der prosperierenden fünfziger Jahre bis zur «Geiz ist geil»-Mentalität der Jahrtausendwende, einschliesslich der Zerstörung der Natur durch Immobiliengrossprojekte.

Claire Zachanassian (Katarina Karnéus) will Rache um jeden Preis: «Der Besuch der alten Dame» im Theater an der Wien. (Bild: Werner Kmetitsch / PD)

Claire Zachanassian (Katarina Karnéus) will Rache um jeden Preis: «Der Besuch der alten Dame» im Theater an der Wien. (Bild: Werner Kmetitsch / PD)

Die Rache der Milliardärin Claire Zachanassian, die als junges Mädchen vom Kaufmann Ill geschwängert und sitzengelassen, dann aus ihrer Heimat als «Dirne» vertrieben wurde, interpretiert Warner als Rache von Übervorteilten, die bereit sind, Recht und Gesetz dafür ausser Kraft zu setzen. Ausstatter David Fielding hat dafür eine grellbunte schöne neue Welt geschaffen, die immer mehr von schreienden Sonderangeboten als Götzen des Marktes beherrscht wird.

Eindringlich verkörpert Katarina Karnéus in einem durch und durch homogenen, auch durch die profilierten darstellerischen Leistungen der Mitglieder des Arnold-Schoenberg-Chors bereicherten Ensemble die überheblich gewordene Claire. Am Pult des ORF-Radio-Symphonieorchesters sorgt Michael Boder für prägnante Rhythmik einer pulsierenden Partitur – einer Musik, die sich stark in den Dienst dramatischer Effekte stellt. Das verbindet diese Oper mit «Dantons Tod», obgleich Einem dort modernistischere, herbere Klänge bevorzugte.

Die Macht der Demagogie

An der Staatsoper ist das Dirigat bei Susanna Mälkki ebenfalls in besten Händen, selbst wenn für heutige Ohren die schneidenden Dissonanzen womöglich das Geschehen rund um die Französische Revolution sowie den Konflikt zwischen dem Titelhelden und Robespierre treffender illustrieren als die strahlenden Dur-Akkorde, mit denen der Komponist hier gleichermassen operiert. Die sängerischen Leistungen entsprechen auch hier dem Niveau des Hauses: Wolfgang Koch porträtiert die Titelgestalt mit machtvoller Sonorität, lässt jedoch den zweifelnden Seiten seiner Figur viel Raum, die schliesslich wie ihre beiden Mitstreiter Camille Desmoulins (Herbert Lippert) und Hérault de Séchelles (Jörg Schneider) an der Guillotine endet.

Auf die Barrikaden! Szene aus Gottfried von Einems Büchner-Oper «Dantons Tod» in der Inszenierung von Josef Ernst Köpplinger. (Bild: Wiener Staatsoper)

Auf die Barrikaden! Szene aus Gottfried von Einems Büchner-Oper «Dantons Tod» in der Inszenierung von Josef Ernst Köpplinger. (Bild: Wiener Staatsoper)

Das Stück war mit seinen «Heil!»-Rufen des Volkes und seiner Vorführung der Macht der Demagogie über das Volk zu seiner Entstehungszeit unmittelbar als Reflex auf die jüngsten traumatischen Erfahrungen in Hitlers Reich verständlich. In der Staatsoper zeigt das Bühnenbild von Rainer Sinell eine multifunktionale Konstruktion aus Brettern, die sämtliche Schauplätze des Dramas beherbergen. Die Zwischenräume zwischen den Brettern ermöglichen dabei ein Spiel mit dem Innen und Aussen, gerade bei den klug disponierten Massenszenen.

Hingegen wirkt die Darstellung der handelnden Personen in der Regie von Josef Ernst Köpplinger zwar plastisch, aber auch konventionell und damit auf Dauer fad. Bei allem Wohlklang hätte etwa die Lucile von Olga Bezsmertna davon profitiert, wenn ihre Geisteskrankheit nicht nur mit allzu opernhafter Gestik gezeigt worden wäre. In gewisser Hinsicht passen diese veralteten darstellerischen Stilmittel freilich symbolhaft auf eine Musik, die bei all ihrer ungebrochenen dramatischen Wirksamkeit doch auch die Spuren ihrer Entstehungszeit deutlich erkennen lässt.