Kennen Sie die Fabel vom Skorpion, der den Frosch überredet, ihn auf seinem Rücken über einen Fluss zu transportieren? „Ich werde dich doch nicht stechen, dann sterben wir ja beide“, beruhigt der Skorpion den ängstlichen Frosch. Dem Frosch erscheint das logisch, aber er findet sich schnell im falschen Film wieder, und der handelt nicht von Sinn oder Moral. „Weil ich ein Skorpion bin“, erklärt sich der Skorpion, nachdem der den Frosch gestochen hat.

Ähnlich verhält es sich mit Friedrich Dürrenmatts berühmter Alten Dame, wenn sie bei ihrem Besuch in ihrem Heimatdorf ihre Auffassung von Gerechtigkeit durchsetzt. Muss Alfred Ill sterben, weil er vor über vierzig Jahren die mittlerweile zu Claire Zachanassian hochgeheiratete Kläri Wäscher schwanger sitzengelassen hat? Das ist eher ein Motiv denn ein Grund: Alfred Ill stirbt, weil sein ehemaliges „Zauberhexchen” das so will und die finanziellen Mittel hat, diesen Willen durchzusetzen. So wie der Skorpion als Tier das Opfer seiner Biologie ist, entwickelt auch Claire keine Verantwortung für ihren eigenen Beitrag zur Misere ihres Lebens und macht sich schließlich zur Täterin. Auf abendländische Moralvorstellungen pfeift sie, und die Bewohner ihres Heimatdorfes pfeifen ihr das Lied von der Selbstsucht schnell nach.

Dürrenmatt verfasste das Libretto zu Gottfried von Einems Oper persönlich, und dieses ist wie das originale Drama voller Bösartigkeit, aber auch voller Poesie. Von Anfang an ist klar, was das Ziel des titelgebenden Besuchs ist, und die Spannung wird primär durch die Entwicklung des Dorfes Güllen gehalten, während Claire konstant ein Ziel verfolgt und nicht viel mehr tut, als wie die Katze vor dem Mausloch auf die Gunst der Stunde zu warten. Allerdings hat ihr von Einem dramatische Musik zuerkannt, welche sie als komplexeren Charakter wirken lässt, als sich dies aus dem Text allein erschließt.

Keith Warner hat diese Erkenntnis für seine Inszenierung am Theater an der Wien genutzt, indem er zwei gegenläufige Zeitreisen schildert: Einerseits zeigt er die Veränderung der Güllener von den Fünfzigerjahren bis in die heutige Zeit, wobei ein Szenenwechsel mitunter zum Jahrzehnt-Wechsel wird. Andererseits wird die Claire mit Fortschreiten des Abends immer jugendlicher und hübscher. Beides verdeutlicht die Allgemeingültigkeit dieser von Dürrenmatt als „tragische Komödie“ bezeichnete Geschichte: Die Gier ist nicht nur in Wien ein Luder, und moralische Bedenken mitunter Luxus, den man sich im Gegensatz zur neuen Robe nicht leisten will.

Einen großen Anteil an der gelungenen Umsetzung dieser Ideen hat Ausstatter David Fielding, der den Ort Güllen in seiner Gesamtheit mit überdimensionierten Postkartenausschnitten zeigt; hinsichtlich der Farbgebung der Szenerie und Kostüme beginnt der Abend in bescheidenem Schwarzweiß und endet in Grellbunt mit Glitzer, so wie sich Alfred Ills Kaufladen von der Greißlerei zu einem mondänen Supermarkt entwickelt. Das alles ist mit viel handwerklichem Geschick und Spaß an der Freude ausgestaltet: Am Konradsweilerwald werden etwa Wohnungen von Diva-Bau errichtet, und der Sarg, den die alte Dame bei ihrem Besuch mitbringt, kommt in der handlichen Verpackung eines schwedischen Möbelhauses (Modell Åmen).

Die Musik bereichert die bekannte Geschichte um ein rhythmisches, nervöses Grundrauschen und eine Extraportion Witz: Großartig ist beispielsweise die Szene, in der die Alte zur Ermordung von Alfred Ill aufruft, was Ills Ehefrau Mathilde (Cornelia Horak) in ein theatralisches „Fredi“ ausbrechen lässt, bevor sie in Ohnmacht fällt – dieses „Fredi“ erinnert vielleicht nicht zufällig an „Amami Alfredo“ aus La traviata.

Als musikalischer Leiter fungiert mit Michael Boder ein ausgewiesener Spezialist für moderne Musik. Verdichtet man das viele Kluge, das er im Programmheft zu von Einems Musik und zum Besuch im Speziellen zu sagen hat, ergibt das die Kurzcharakterisierung „Richard Strauß-Parlando, unterlegt mit viel Rhythmus und einigen stilistischen Parallelen zu Hans-Werner Henze“. In Boders exzellentem Dirigat kommt auch die besten musikalische Eigenschaft der Alten Dame zur Geltung, und das ist der abwechslungsreich orchestrierte Spott, mit dem das Bühnengeschehen kommentiert wird. Auch der schwierige Balanceakt zwischen Vollgas bei den Blechbläsern und Sängerfreundlichkeit gelingt

Als Claire Zachanassian bewältigt Katarina Karnéus die regiegewollte Metamorphose gekonnt, gegen Schluss wandelt sich ihr bis dahin exzentrisch-überdrehter Ton gar zum Schönklang. Am meisten beeindruckt aber Russell Braun, der eine stimmlich makellose Leistung abliefert und die Nöte des Alfred Ill beeindruckend darstellt. Die zahlreichen kleineren Rollen sind durchwegs gut besetzt und singen textverständlich. Hervorzuheben sind Raymond Very als zunächst amikaler Bürgermeister, Markus Butter als rauchender Luxus-Pfarrer und Adrian Eröd als pseudo-intellektuell argumentierender Lehrer; als Butler bleibt Mark Milhofer etwas blass. Die doppelten Eunuchen-Lottchen dieser Inszenierung werden von Antonio Gonzalez und Alexander Linner bestens gesungen und gespielt. Ebenso wie die Besetzungen etlicher anderer kleiner Partien gehören die beiden dem Arnold Schoenberg Chor an – dies belegt die herausragende Qualität dieses Ensembles einmal mehr.

Fazit: Wird die Alte Dame so treffend inszeniert und musiziert, darf sie ruhig öfter zu Besuch kommen.

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