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Adam sucht Eva

Das Bremer Theater gibt die „Wahlverwandtschaften“, reloaded von Armin Petras. Und singt über den Irrsinn moderner Beziehungskisten

So also geht’s, dass alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei. Im Bremer Theater am Goetheplatz erfanden die Komponisten Thomas Kürstner und Sebastian Vogel ein neues Genre. Vom Schauspiel ausgehend, schrieben sie ein dramatisches Singspiel mit Neuer Musik. Eine Oper ist das nicht, das höchste der sängerischen Gefühle bleibt der Sprechgesang. Ein Ensemble aus Schauspielern, Musikern, Sängern und Statisten spielt die „Wahlverwandtschaften“, reloaded auf Deutsch und Englisch von Armin Petras, frei nach Johann Wolfgang von, danach steht fest: Goethe fucks ju.

Regisseur Stephan Kimmig hat seine integrale, multimediale Inszenierung des Petras-Stückes als Versuchsanordnung kenntlich gemacht. Drei Schüler mit den Aufzeichnungsgeräten Tonband und Tafel sitzen am linken Bühnenrand und begleiten das zweistündige, pausenlose Geschehen nicht teilnahmsvoll, sondern dokumentierend. Vor der Bühne sitzt, nicht im Graben versenkt, das in Freizeitklamotten durchkostümierte 18-köpfige Klassik-Ensemble (Kostüme: Anja Rabes), das partiell abgedunkelt, mal erleuchtet, immer im Blick und im Sinn bleibt.

Gespielt werden die Qual-der-Wahl-Verwandtschaften als Beziehungsexperiment unserer Tage. Edouard (Patrick Zielke als Getriebener) ist Ex-Reisejournalist in der Midlife-Crisis, spezialisiert auf Bürgerkriegsgebiete. Mit seiner Freundin Charlotte (schmerzvoll-gefasst: Nadine Lehner), die komponiert, hat er sich in einem alten Bauerngehöft von 1867 niedergelassen, beide langweilen sich bei der Gartengestaltung und beim Beziehungsexperiment im Vorruhestand zu Tode. Sie sind voller Sehnsucht nach einem glücklichen Leben. Es brechen in ihr lediglich nicht unglückliches Leben ein: Borderlinerin Tilly (Hanna Plaß), Charlottes Ex-Stieftochter, Internatsabbrecherin aus der Schweiz, und Otto (Robin Sondermann), Edouards Bruder, Architekt in Pleite. Über Kreuz entflammen die Leidenschaften. Herrliche Regieeinfälle: Otto macht für Charlotte Badehosenmodenschau, trägt immer verwegenere Stücke. Die beiden liefern sich ein Trommelduett mit Besteck. Tilly macht Schweinebummel von der Zeltstange, Edouard trägt sie auf dem Rücken.

Schauplatz des Singspielexperiments ist ein lang gestrecktes Partyzelt (Bühne: Katja Haß). Das Leben ist hier auch ein Kindergeburtstag (Charlotte: „Ich hab alles/ vielleicht viel zu viel/ vielleicht ist es das“), nämlich der von Tilly, den alle in Karnevalskostümen feiern. Das Fest der todtraurigen Clowns entlarvt die Figuren, in denen das (Bildungs-)Bürgertum im Saale sich trefflich gespiegelt sehen darf. Der Junge, der ertrinkt, ist irgendeiner aus dem Dorf. Das Feuerwerk zum Geburtstag wird trotzdem abgebrannt.

Wenn eine Beziehung scheitert, muss heute, wo alle so alt werden, eben die nächste her („Einsamkeit macht böse und dumm“). Edouard: „Ich lasse mich scheiden“, Charlotte: „Geht nicht, wir sind nicht verheiratet“, Edouard: „Scheiße, hab ich vergessen“. Das wirkt, gesungen, stark, und es wird von der Musik getragen, die mehr als Live-Filmmusik ist, gleichzeitig Motor und Verstärker der Handlung.

Und wenn die nächste Beziehung da ist, bleibt man befreundet, und die väterlich-mütterlichen Freunde Wolfgang (Markus John) und Christina (Annemaaike Bakker) aus der Nachbarschaft kommen vorbei. Irgendwer kocht experimentell was Leckeres. Alle Klischees, die hier aufgetürmt werden, illustrieren den Kern der Beziehungschemie. Köstlich die Partyzeltwand-Filmbespielung (Video: Rebecca Riedel): Die Figuren treiben unter Wasser dahin, bekleidet, als hätten sie den Geburtskanal nie verlassen. Ihr Leben ist in langem, ruhigem Fluss. Zum Schluss können sie alle – außer der realistisch veranlagten Charlotte – wieder durchstarten, weil sie erkennen, dass Adam und Eva im Paradies nicht glücklich waren, sondern sich gelangweilt haben müssen. In neuen Beziehungen fangen sie noch mal von vorn an. Die „Wahlverwandtschaften“ als treffendes Zeitstück.

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