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"Wahlverwandtschaften" am Musiktheater Bremen
Gefühl und Vernunft

Nach Goethe, nach Petras - am Theater Bremen wurde das Musiktheater "Wahlverwandtschaften" von Thomas Kürstner und Sebastian Vogel uraufgeführt. Armin Petras, noch bis Sommer 2018 Schauspiel-Intendant in Stuttgart, schrieb das Libretto. Aspekte von Goethes Roman finden sich nur rudimentär.

Von Elisabeth Richter | 25.02.2018
    Eine junge Frau betrachtet im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar eine Porträtbüste von Johann Wolfgang Goethe.
    Porträtbüste von Johann Wolfgang Goethe (dpa / picture alliance / Hendrik Schmidt)
    Manche chemischen Elemente besitzen die Eigenschaft, ihre bestehenden Verbindungen zu lösen, wenn sie mit anderen Stoffen in Berührung kommen. Mit den neuen Stoffen gehen sie eine "wahlverwandtschaftliche" Verbindung ein. Goethe war bekanntermaßen auch naturwissenschaftlich mehr als nur interessiert. Der von einem schwedischen Wissenschaftler 1775 beschriebene chemische Vorgang der "Wahlverwandtschaften" inspirierte ihn zu seinem vielleicht rätselhaftesten, gleichnamigen Roman.
    Goethe transferierte das chemische Kräftespiel von Anziehung und Abstoßung auf die Beziehung zwischen den Geschlechtern und stellte zwei Liebeskonzepte einander gegenüber: ungebundene Leidenschaft und eheliche Liebe. Eduard und Charlotte treffen auf Otto und Ottilie, ein Kind wird geboren und stirbt bei einem Unglück, Ottilie und Eduard zerbrechen daran, und auch der am vernünftigsten agierenden Charlotte fehlt am Ende jede Freude.
    Umsetzung "laut und langweilig"
    Radikal und modern ist Goethes Experiment der chemischen Reaktionen zwischen den Geschlechtern bis heute, freilich unter anderen Vorzeichen. Kein Wunder, dass Armin Petras als Autor Potenzial für eine eigene Version der Geschichte sah. Doch sie ist in der Bremer Produktion mit Musik von Thomas Kürstner und Sebastian Vogel, sowie der Regie von Stephan Kimmig alles andere als radikal und modern. Sondern laut und langweilig.
    Als eine Versuchsanordnung kann man den Einheitsbühnenraum von Katja Hass verstehen: Ein riesiges weißes, nach vorn offenes Zelt, jede Figur hat da ihr Plätzchen, ein Tisch, ein E-Klavier. Permanente Videos hinter den weißen Zelt-Wänden zeigen Menschen wie Fische im Wasser, Hände pulen darauf hin und wieder obszön in matschigem Obstfleisch herum, oder die gerade passierende "Bühnenaction" landet als Close-up live auf der Leinwand.
    Charlottes Nichte mit Borderline
    Eduard und Charlotte dürfen in der Musikalisierung von Thomas Kürstner und Sebastian Vogel auch singen. Otto - bei Goethe ein Freund Eduards, bei Petras sein heruntergekommener Bruder - spricht nur. Ottilie heißt jetzt Tilly und ist nicht mehr Charlottes Nichte, sondern heftigst "border-linernde" "Exstieftochter" am Rande des Wahnsinns. Petras erfindet Wolfgang und Christina als alte Bekannte, die - angelehnt an die Figur des Mittler bei Goethe - unangenehme Fragen nach dem Sein stellen.
    Während Goethe die finale Katastrophe zwingend und packend entwickelt, sorgt diese Gemeinschaftsarbeit von Armin Petras und den Komponisten Thomas Kürstner und Sebastian Vogel eher für Verwirrung. Nur rudimentär und eher unzusammenhängend finden sich in der Zwei-Stunden-Version Aspekte von Goethes Roman. Wenn Charlotte bei Petras klagt "Ich hab alles  / vielleicht zu viel  /  vielleicht ist es das", ist das der – offensichtlich zeitlose - "Ennui der upper class", die eben auch ihre Kinder vernachlässigt. Tilly brüllt ihr Unwohlsein mit sich und der Gesellschaft am unverblümtesten und lautesten in englischen Popsongs heraus.
    Tonal, atonal, seriell, vom Barock bis zur Filmmusik
    Kürstner und Vogel arbeiten bei ihrer wort-unterstützenden Musik mit Versatzstücken aus der Musikgeschichte: tonal, atonal, seriell, vom Barock bis zur Filmmusik ist alles dabei. Das wirkt ebenso assoziativ und zufällig wie das von Stephan Kimmig laut und mit viel klamaukiger "action" inszenierte Bühnengeschehen. Text, Musik und Regie fehlen Linien und Spannungsaufbau. Auch wenn Clemens Heil das exzellent agierende Kammermusik-Ensemble der Bremer Philharmoniker souverän leitete, und besonders Charlotte mit Nadine Lehner und Eduard mit Patrick Zielke mit zwei hervorragenden Sängern besetzt waren.