Es gibt ihn nicht oft, diesen Abend, an dem Musik und Inszenierung zu einem größeren Ganzen verschmelzen. Noch rarer sind Momente, in denen Kunstgenuss höhere Einsichten für das Hier und Heute vermittelt, das Ringen mit der Willkür des Lebens. Dafür holen wir gern ein schönes Vokabel hervor – es heißt Sternstunde. Saul ist die Geschichte eines Großen, der von einem Jüngeren, Besseren, Beliebteren rechts überholt wird. Das Untergangsepos beginnt just an dem Punkt, wo für Saul schon Schluss mit lustig ist, denn David, der soeben Goliath erschlagen hat, tritt auf und nimmt ihm – ohne es darauf anzulegen – Beliebtheit, Würde, Familie, Verstand, Leben. Ohne Dämmerung bricht die Nacht auf Saul herein, Freude herrscht erst wieder, als er tot ist und David sein Nachfolger wird.

Am Theater an der Wien inszeniert Claus Guth die erste Zusammenarbeit von Händel mit dem frommen Bibelkenner und Mäzen Charles Jennens (der unter anderem noch Messiah folgen sollte) am Beispiel einer Familie, in welcher der vordergründig ideale Schwiegersohn die Familie vernichtet. Man bekommt eine dumpfe Vorahnung, als dieser vom Kampf verschwitzte Kerl ins bourgeoise Esszimmer – Ausstattung von Christian Schmidt – platzt und Sauls versammelter Familie Goliaths Kopf auf den Tisch stellt. Aber seien wir nicht so zimperlich! Die Jugend will sich im Glanz des Fremden sonnen. Nur Merab, Sauls ältester Tochter, die ihn heiraten soll, ist er anfangs zu minder. Der alternde Saul schwankt gegenüber David zwischen Staunen, Neid und Hass, und es entwickeln sich zwei Seelen in seiner Brust. Schließlich ist der arme Irre tot, sein Sohn Jonathan, auf den er seinen Hass auf David projiziert hatte, ebenfalls. Aber bei allem Respekt: Warum soll David noch mit Frau und Schwägerin lang Trübsal blasen, wenn sich schnell ein Helden-Groupie findet?

Diese Geschichte wird auch mit viel Liebe zum Detail und Liebe zum Menschen erzählt. Dabei gibt Guth dem Tragischen Witz, ohne seine Figuren jemals lächerlich werden zu lassen. Charakteristisch ist etwa, dass Saul seinen ersten Auftritt sitzend samt Speer in einem schmierigen, weiß gekachelten Waschraum hat, seinem einzigen Rückzugsort. Die meisten Regisseure könnten hier der Versuchung, ihn plakativ auf einen Thron aus Sanitärkeramik zu setzen, nicht widerstehen. Nicht so Guth, der das Publikum mit seiner Arbeit immer zu überraschen weiß – mit großem Effekt, ohne diesen je um seiner selbst willen zu suchen. Er zieht ihn aus dem Vorhandenen, was wiederum für sein tiefes Verständnis des Werkes spricht. Hier gibt es keine eitle, selbstbezogene Deutung, nichts, was dem Werk nicht inhärent ist; trotzdem entsteht der Eindruck des noch nie Dagewesenen.

Auch die Besetzung lässt kaum Wünsche offen: Florian Boesch beeindruckte als Saul mit burgtheaterreifem Spiel und vokaler Strahlkraft selbst in den düstersten Momenten. Atemberaubend geriet die Zwiesprache, die Guth ihn mit sich selbst als Samuels Geist halten lässt. Anders als in vielen Opern, in denen „Wahnsinn“ bloß ein beliebtes Stilmittel ist, bekommt man hier Einblicke in das, was leiden heißt. David wurde von Jake Arditti kompetent und mit großem Einsatz gesungen, allerdings besaß sein Countertenor nicht ganz den Schmelz und die Leichtigkeit, mit denen man „Oh Lord, whose mercies numberless“ idealerweise anstimmt. Als Sauls gegenstäzliches Töchterpaar beeindruckten Anna Prohaska (Merab) und Giulia Semenzato (Michal). Letztere gefiel besonders im Liebesduett mit David, während erstere als arroganter Heißsporn glänzte. Besonders gut gelangen Prohaska die Zornesarie über ihren Vater („Capricious man“) und der Vorwurf an Bruder Jonathan (Andrew Staples), er wäre ein Prinz von Geburt, aber im Geiste ein Sklave. Dass Guth diesen großartigen, an anderen Stellen mit lupenreinen Koloraturen glänzenden Händel-Tenor dazu Zigaretten rauchen lässt, sei als passender Regieeinfall am Rande erwähnt. Marcel Beekmann (Abner/Hohepriester/Doeg) ließ sich nach soeben überstandenem Infekt ansagen, konnte aber seinen wandelbaren Charaktertenor wie gewohnt zur Geltung bringen.

Im Graben wurde der Abend vom Freiburger Barockorchester – aufgrund der originellen Instrumentierung mit zahlreichen Gastmusikern – unter der Leitung von Laurence Cummings zu einem Ereignis gestaltet; in der maximalen Präzision, die im Originalklang erzielbar ist: Ebenmaß bei den Streichern, klare Töne im Blech und liebevoll ausgestaltete Soli, das ist Barockmusik at its best.

Händels Oratorien bieten gegenüber seinen Opern weniger Schnörkel in den Arien, dafür aber große Auftritte für Chöre, welche der Arnold Schoenberg Chor sichtlich und hörbar auskostete. Euphorische Kritiken ist dieses Ensemble zwar gewohnt, für die Leistung in Saul gebührt ihm dennoch eine besondere Erwähnung: Händels komplexe Fugen ohne Noten mit der geforderten Genauigkeit zu singen ist schon per se bemerkenswert; sich dabei ganz der Choreographie von Ramses Sigl und dem Dirigat von Laurence Cummings hinzugeben und so einen Klangkörper im besten und buchstäblichen Sinn zu formen, das ist große Kunst.

Wenig überraschend geriet der Abend zum uneingeschränkten Triumph. Man feierte die Kunst, ihre Protagonisten, das Leben, und die eine oder andere Erkenntnis. Eine davon lautet: Das möchte man noch einmal erleben.

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