Der faule Zauber namens Persönlichkeit

In Dmitri Tcherniakovs «Tristan»-Inszenierung brechen alle Dämme: Zusammen mit Daniel Barenboim zeigt der russische Regisseur eine Wagner-Deutung, die konsequent der metaphysischen Auflösung entgegenströmt.

Julia Spinola, Berlin
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«Der furchtbare Trank! Wie vom Herz zum Hirn er wütend mir drang. Kein Heil nun kann, kein süsser Tod je mich befrein von der Sehnsucht Not!»: Richard Wagners «Tristan und Isolde» an der Lindenoper. (Bild: Monika Rittershaus / Berliner Staatsoper)

«Der furchtbare Trank! Wie vom Herz zum Hirn er wütend mir drang. Kein Heil nun kann, kein süsser Tod je mich befrein von der Sehnsucht Not!»: Richard Wagners «Tristan und Isolde» an der Lindenoper. (Bild: Monika Rittershaus / Berliner Staatsoper)

Sie gelten als eines der berühmtesten Liebespaare der Welt: Tristan und Isolde, Protagonisten einer Amour fou mit tödlichem Ausgang, gefangen in einer Dreieckskonstellation, aus der sie sich mit einer beispiellos selbstzerstörerischen Unbedingtheit befreien, wobei ihre alles überflutende Liebe die schnöden Begrenzungen des Sittengesetzes kühn hinwegspült. Aber ist dieses Nichts, das Richard Wagner frech «Handlung» nannte und das Friedrich Nietzsche weit treffender wie ein «Opus metaphysicum» vorkam, wirklich eine Liebesgeschichte?

Der Meister selbst erklärte fünf Jahre vor der Vollendung seiner Partitur, er wolle mit «Tristan und Isolde» der Liebe, dem «schönsten aller Träume», ein «Denkmal setzen». Aber Wagner war nicht Beethoven. Auch wäre es nicht das erste Mal in der Musikgeschichte, dass ein Komponist mit seinen Äusserungen eine falsche Fährte legte. Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov, einer der grossen Seelendeuter seiner Zunft, ist der Mär von der Liebesgeschichte jedenfalls nicht auf den Leim gegangen. Wie ein Psychoanalytiker legt er in seiner Berliner Neuinszenierung die Beziehungsmechanismen bloss, die Tristan und Isolde zum Verhängnis werden, und führt sie im letzten Aufzug überraschend auf ihren Kern, auf unverarbeitete Kindheitstraumata, zurück.

Dirigentischer Spätstil?

Das ist grossartig, weil es sich nicht um einen äusserlich applizierten Regieeinfall handelt, sondern weil alles unmittelbar aus dem Text und vor allem: aus der Musik heraus entwickelt scheint. Und auch musikalisch stimmt an diesem ersten wirklich grossen Premierenabend in der wiedereröffneten Staatsoper Unter den Linden endlich einmal wieder (fast) alles. Es ist nach zweimal Bayreuth, dreimal Berlin und einmal Mailand der siebte «Tristan», den Daniel Barenboim dirigiert, und man möchte bei seiner Auslegung fast von einem Spätstil sprechen. So meditativ, so nuancenreich sprechend und metaphysisch der Auflösung entgegenströmend wie an diesem Abend hat man diese Musik selten vernommen.

An der Scala hatte Barenboim vor gut zehn Jahren vor allem das dramatische Ungestüm des «Tristan» im Blick, mit schroffen Tempowechseln, einer jäh umschlagenden Dynamik und harten Akzentuierungen. Nun betont er die ingeniös subtilen Übergänge in diesem motivischen Netz aus Erinnerungen und Ahnungen. Mit der ihm traumwandlerisch folgenden Berliner Staatskapelle bahnt er einen Weg ins Innerste, lauscht den schillernden Metamorphosen der unendlichen Melodie nach und nimmt Dynamik und Tempo dabei bisweilen bis an die Grenze des völligen Stillstands zurück.

Schon das berühmte Eröffnungsmotiv des Vorspiels formuliert hier eher eine ins Nichts laufende Frage als eine von brennendem Verlangen getriebene Forderung. Seine beiden Wiederholungen markieren vollends die Sehnsucht nach einem «Zurückwollen», denn statt des vorgeschriebenen Crescendos dirigiert Barenboim ein zweistufiges Diminuendo. All das süchtelnde Sehnen und Sich-Verzehren, mit dem sich die Musik dann im betörend klangsinnlichen Spiel der Staatskapelle grenzüberflutend verströmt, scheint an diesem Abend deutlicher denn je nur ein einziges Ziel zu haben: die vollständige Selbstauflösung.

«Mild und leise, wie er lächelt»: Anja Kampe (Isolde) und Andreas Schager (Tristan) an der Berliner Staatsoper. (Bild: Monika Rittershaus / Berliner Staatsoper)

«Mild und leise, wie er lächelt»: Anja Kampe (Isolde) und Andreas Schager (Tristan) an der Berliner Staatsoper. (Bild: Monika Rittershaus / Berliner Staatsoper)

Unterbrochen wird dieser Sog ins Hinfällige nur von der grell und lärmend einfallenden König-Marke-Welt mit ihren im Vergleich fast unerträglich gesunden Märschen, Fanfaren und banalen Strophenliedern. Barenboim dirigiert an diesem Abend also auf grandiose Weise eine Musik, die zum Tode verführen möchte. Und dies, nicht der Sex, der nicht stattfindet, ist das eigentliche Skandalon des «Tristan»: das «Furchtbare», das Wagner an ihm wahrnahm und das ihn glauben liess, gute Aufführungen müssten die Zuhörer «verrückt machen». Und genau das hat Tcherniakov inszeniert: einen ganz und gar symbiose- und todessüchtigen Tristan, dem Isolde nur Mittel zum Zweck ist.

Andreas Schager, der seinen kraftvollen Tenor zugunsten eines vielschichtigen Rollenporträts wunderbar zu modellieren weiss, spielt zunächst einen manipulatorischen Frauenverführer, wie Wagner wohl einer war. Wie er die von Anfang an als innerlich haltlos gezeichnete Isolde in der niedersinkenden Liebesnacht ohne jede Berührung nur durch Hypnose auf sich beziehungsweise auf das Sterben-Wollen einschwört, das hat etwas von einem halbseidenen Zauberkünstler.

Anja Kampe wirft sich als Isolde mit jugendlich-heroischer Emphase in die Partie, spielt und singt mit umwerfendem Furor und leuchtenden Spitzentönen eine unentwegt ausser sich stehende, sich nach Erdung sehnende und latent medikamentsüchtige Frau. Beide singen vorbildlich textverständlich, wie auch die übrigen Sänger des fabelhaft besetzten Ensembles mit Boaz Daniel als prolligem, aber tonschön singendem Kurwenal, Ekaterina Gubanova als dramatischer Brangäne, Stephan Rügamer als Melot und Stephen Milling als einem – trotz Erkältung – anrührend klagenden König Marke.

Traum und Trauma

Drei sehr heutige Räume hat Tcherniakov als sein eigener Bühnenbildner für die drei Aufzüge entworfen: die holzvertäfelte Kabine eines Oligarchen-Dampfers für den ersten Akt, einen protzenden Jagdsalon für den zweiten und ein grosses Zimmer in einer städtischen Altbauwohnung als jenen Ort der Kindheit, an den der verwundete Tristan im letzten Akt zurückkehrt. Diesen Kindheitsraum hat Tcherniakov aus seiner sonst ganz anders gelagerten Inszenierung von 2005 am Petersburger Mariinsky-Theater quasi herbeizitiert.

Alle psychischen Dämme sind dann gebrochen, alle blasierten Allüren sind dahin, und kein fauler Zauber namens Persönlichkeit kann der nackten Seele mehr Schutz bieten. Der psychotische Tristan wird von den Szenen seiner Kindheit überflutet: der Verlust des Vaters, der Tod der Mutter bei der eigenen Geburt. Vater und Mutter tauchen nun als Fiebervisionen Tristans wieder auf, nachgestellt von zwei Schauspielern. Wenn Isolde eintrifft, liegt Tristan schon tot am Boden. Das Gemetzel zwischen Melot und Kurwenal nach König Markes Ankunft findet auf vollständig dunkler Bühne statt. Isolde singt ihren verklärenden Schlussmonolog in Tristans Hemd gehüllt, zieht sich dann an seine Seite in die Schlafnische des Zimmers zurück – und zieht den Vorhang zu. Jubel, aber auch Buhrufe für einen «Tristan», der sich traumtief in die Erinnerung eingraben wird.