Verdis „Falstaff“ in Antwerpen : Da sitzt ein Orchester im Baum
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Den Grabscher gelüstet es nach Barem: Craig Colclough als Falstaff. Bild: Annemie Augustijns
Gut gefoppt: Der Schauspieler Christoph Waltz inszeniert in Flandern Giuseppe Verdis Oper „Falstaff“ und lässt sich dabei von keinem Aktualisierungsdruck irritieren.
Zum Herstellen von Gegenwart scheint auf unseren Opernbühnen heute gesteigerter Eifer nötig zu sein, als wären Gegenwart und Oper zwei Dinge, die sich nur krampfhaft zusammenbringen ließen. Die Konvention des Aktualisierungsdrucks – Theodor Fontane hätte sie „das gesellschaftliche Etwas“ genannt – wirft ständig ihr Stöckchen, das die Regisseure, in artig intellektueller Selbstdressur, hechelnd apportieren. So wird durch Kostüme, „Verlegung in unsere Zeit“ und andere Äußerlichkeiten (Flüchtlinge, Trump-Luftballons, Politikerhände in Rautenhaltung) die Gefährtenschaft zwischen uns und der Oper auf Schlüsselreize reduziert.
Christoph Waltz, als Schauspieler bekannt aus Film und Fernsehen (im Kino jüngst in „Tulpenfieber“), lehnt sich in seiner Rolle als Opernregisseur in diesem Wettlauf um Zeitnähe weit zurück. An der flandrischen Oper in Antwerpen, wo er nach dem „Rosenkavalier“ von Richard Strauss jetzt zum zweiten Mal Musiktheater inszeniert, beginnt sein „Falstaff“ dort, wo der Librettist Arrigo Boito und der Komponist Giuseppe Verdi das Stück ursprünglich angesiedelt haben: in merry old England zu einer Zeit, da kragenlose Hemden noch nicht retro waren und moosgrüne Samtwämse für Männer (Kostüme: Judith Holste) als Hetero-Norm gelten konnten.
Äußerlich verkommen, innerlich eine schöne Seele
Sein Falstaff – der wirklich formidable Bariton Craig Colclough – ist nicht allzu dick, hat aber im Gasthof „Zum Hosenband“ die Vorräte so weit abgeräumt, dass ihn angesichts eines Apfels die im Y-Chromosom angelegte Obst-Intoleranz von Männern zum Handeln zwingt: Er braucht Geld für Fleisch, Kuchen und Wein, und er will es sich durch ein Techtelmechtel mit den reichen Bürgersfrauen Alice Ford und Meg Page erschleichen. Dass die Damen seinen Plan durchschauen und ihn im zweiten Akt samt Wäschekorb in die Themse kippen lassen, wird in Antwerpen sehr liebevoll nachgespielt. Welche Interessen Waltz über das Nachspielen hinaus verfolgt, wird nicht gleich erkennbar.
Aber aus dem Gesang von Colclough leuchtet von Anbeginn die Güte eines Menschen, dem das Leben ein Fest ist und der den Sinn von Knauserigkeit nicht einsieht. Er mag ein äußerlich verkommener Kerl sein, innerlich – das hört man – ist er eine schöne Seele. Verdi gönnt Alice Ford (Jacquelyn Wagner) und Meg Page (Kai Rüütel) wenig charakterliche Individualität, wie überhaupt die Komik in dem Stück eher aus der musikalischen Motorik im Stil Gioachino Rossinis als aus echtem Physiognomie-Kontrast wie bei Wolfgang Amadeus Mozart erwächst.
Am ehesten gewinnt die Botin Frau Quickly ein einprägsames Profil; und Iris Vermillon, eigentlich ein Mezzosopran von verschwenderischem Glanz, hat hier plötzlich die Luken zu den Alt-Katakomben ihrer Stimme aufgetan, dass man nur fasziniert den Hut ziehen kann: „Reverenza!“ Nun singen aber Wagner und Rüütel dort, wo sie als Alice und Meg im Brief Falstaffs von den Verheißungen großer Gefühle lesen, momentweise mit einem schwärmerischen Ernst, der andeutet, dass im Leben dieser Frauen für solche Größe zwar kein Platz, aber zumindest Bedarf ist. Danach kichern sie wieder – zu schlau, als dass sie ein Schicksal haben könnten. Aber zwischen dem Gekicher hat Christoph Waltz mit genauem Ohr die Möglichkeit eines anderen Lebens herausgehört und nicht burlesk darüber hinweginszeniert.