Schwarz-Rot-Gold mit Hexenhaus

Die Berliner Staatsoper Unter den Linden startet mit zwei Premieren ihren regulären Spielbetrieb. Die Produktionen von Achim Freyer und Eva-Maria Höckmayr können nicht verdecken, dass das Haus ein viel weiter reichendes Problem hat.

Georg-Friedrich Kühn, Berlin
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Bei ihm gibt's kein Magenknurren: Gretel (Elsa Dreisig) und Hänsel (Katrin Wundsam) mit dem «Hunger-Koch». (Bild: Monika Rittershaus / Berliner Staatsoper)

Bei ihm gibt's kein Magenknurren: Gretel (Elsa Dreisig) und Hänsel (Katrin Wundsam) mit dem «Hunger-Koch». (Bild: Monika Rittershaus / Berliner Staatsoper)

Die offizielle Eröffnung der runderneuerten Berliner Lindenoper Anfang Oktober war künstlerisch nicht gerade eine Sternstunde. Wegen der vielfachen Verschiebungen des Eröffnungstermins hatte man einige für einen derartigen Feieranlass geeignete Fest-Werke schon «verbraucht». Ein krudes Gemisch aus Goethes und Robert Schumanns «Faust» diente als Ersatz, vom Noch-Hausherrn Jürgen Flimm flapsig auf die Bühne geschoben, natürlich mit dem wie immer gefeierten Daniel Barenboim am Pult.

Gleich danach wurden die Türen allerdings wieder verschlossen, um der Technik das Einrichten der vorhandenen Produktionen zu ermöglichen. Jetzt erst, zum 275. Geburtstag des 1742 vom Preussenkönig Friedrich II. eingeweihten Hauses, wurde zunächst mit einem Konzert der Staatskapelle unter Barenboim und anschliessend mit zwei Premieren der reguläre Spielbetrieb eröffnet.

Bildnerische Wirkung

Den szenischen Auftakt durfte Achim Freyer machen – seine einst für Ruth Berghaus geschaffene Ausstattung zum «Barbier von Sevilla» aus dem Jahr 1968 ziert noch immer den Spielplan. Für Engelbert Humperdincks Märchenoper «Hänsel und Gretel» hat der Maler, Kostüm-, Bühnenbildner und Regisseur jetzt eine Art Figurentheater entworfen.

Die Kinder der ursprünglich als Singspiel geplanten Oper tragen übergrosse Köpfe mit kleinen Stäbchen unter den Wangen, an denen die Darstellerinnen zupfen können, um die Papp-Augen zu rollen. Die Mutter zetert im roten Reifrockkleid mit herrischem Haar-Dutt. Der Vater tobt im senfgelben Junker mit Hexenbesen und Trinkflasche über die Bühne. Der Wald wird von jeder Art Tieren, Wildschweinen inklusive, und Gruselgeistern bevölkert. Die Hexe reckt eine phallusförmige Schnüffelnase heraus, hat Lolli und Schleckmaul auf dem Kostüm kleben; ihr Lebkuchen-Häuschen entpuppt sich indes als Werbeprospekt für Sonderangebote.

In den schwarz ausgeschlagenen und mit kleinen Sternen-Lämpchen durchsetzten Prospekt hat Freyer eine Partykugel gehängt, wie schon bei seiner Abschiedsproduktion für das Berliner Ensemble, «Abschlussball», im Herbst vergangenen Jahres. Ähnlich improvisatorisch ist auch hier das Bühnengeschehen organisiert. Die Produktion setzt vor allem auf die bildnerische Wirkung von Kostüm und Ausstattung. Ganz witzig der hinzuerfundene Hunger-Koch, eine hohe weisse Figur mit schwarzen Löchern im Bauch.

Vorgänge zu inszenieren, die etwas erzählen könnten, meidet Freyer – Spannung kommt daher wenig auf. Zur Pause hörte man denn auch schon gepfefferte Buhs, nicht aber am Schluss. Gleichwohl kann man sich fragen, ist dies ein Theaterabend mehr für Kinder oder für Erwachsene? Gedankentiefe, wie sie Freyers 1987 für das Wiener Burgtheater entworfene, ähnlich konzipierte und mittlerweile legendäre «Metamorphosen» nach Ovid hervorriefen, erreicht dieser Abend nicht. Es sei denn, man dürfte die ins Schlussbild von der an der Decke krabbelnden Spinne ins Bild gehängte Tafel «Revolutio» beim Siegesreigen der Kinder als konsumkritische Aufforderung zu einer Kinder-Revolte deuten: Rot für die Hexe.

Siegesreigen der befreiten Kinder. (Bild: Monika Rittershaus / Berliner Staatsoper)

Siegesreigen der befreiten Kinder. (Bild: Monika Rittershaus / Berliner Staatsoper)

Musikalisch ist die Aufführung ohne Tadel. Frankfurts Generalmusikdirektor Sebastian Weigle dirigiert die Berliner Staatskapelle mit Pfiff. Katrin Wundsam als Hänsel und Elsa Dreisig als Gretel bringen glockenhelle Stimmen ein. Marina Prudenskaya ist die gebieterische Mutter, Roman Trekel der trinkfreudige Vater, Stephan Rügamer die gierige Hexe.

Steh-Theater, neu interpretiert

Als zweite Premiere stand Claudio Monteverdis «L’incoronazione di Poppea» auf dem Spielplan: das so zeitlos politkritische, letzte Bühnenwerk des Venezianer Markusdom-Kapellmeisters aus dem Jahr 1642. Mit der Akademie für Alte Musik im Graben wurde das Plus der durch die aufwendige Anhebung der Decke im Zuschauerraum verbesserten Akustik besonders ohrenfällig.

Die Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr zeigt eine gleichsam erweiterte Form von Oratorium: Steh-Theater, neu interpretiert. Auf der von Jens Kilian gestalteten leeren Bühne weilen oder wandeln die von Julia Rösler in kräftige Goldtöne gewandeten Figuren, meist hinten, wenn sie nicht dran sind, an der Rampe, wenn sie singen. Gelegentlich dürfen sie auch mal in dem konkaven Übergang zwischen angeschrägtem Bühnenboden und Rückwand sitzen oder wütend gegen die Wand hochrennen.

Nach dem Freitod des moralischen Zuchtmeisters Seneca be-fällt (im Wortsinn) die Hofgesellschaft eine kollektive Liebeslust. Poppea, wenn denn ihre Rivalin Ottavia, vom Kaiserthron gestossen, tot umfällt, wird immerhin ihres künftigen Kaiserinnen-Seins nicht recht froh. Zuckend und in Distanz zum unberechenbaren Gatten intoniert sie mit ihm das berühmte Schlussduett. In Anna Prohaska hat man dafür eine nahezu ideale Poppea. Koloraturensicher zieht sie als Kaiserdirne im schwarzen Hemdchen oder im hellen Korsett alle darstellerischen Register.

Fatale Liebe: Nerone (Max Emanuel Cencic) und Poppea (Anna Prohaska). (Bild: Bernd Uhlig / Berliner Staatsoper)

Fatale Liebe: Nerone (Max Emanuel Cencic) und Poppea (Anna Prohaska). (Bild: Bernd Uhlig / Berliner Staatsoper)

Auch der Nero von Max Emanuel Cencic bietet Counter-Gesang in Vollendung. Franz-Josef Selig ist der profunde Philosoph Seneca. Als verstossene Kaiserin kann sich Katharina Kammerloher profilieren – und in der Rolle der Amme begegnet man mit dem Altus Jochen Kowalski einem guten alten Bekannten. Am Pult leitet Diego Fasolis geschmeidig, wenn auch eher bedächtig das Intrigen-Spiel. Viel Beifall am Ende, aber einige Buhs fürs Inszenierungsteam. Eines jedoch zeigte dieser Wiedereröffnungspremierenreigen in aller Deutlichkeit: wie nötig frischer Wind und neue Ideen für das Haus wären und wie überfällig der im Frühjahr anstehende Wechsel in der Intendanz ist.