Hänsel
und Gretel verirrten sich im Schlachthaus
Von Bernd
Stopka / Fotos von Thomas M. Jauk - stage
picture
Märchen haben oft so grausame
Elemente, dass man sich seit
Ewigkeiten fragt, ob sie denn
überhaupt etwas für Kinder sind.
Hänsel und Gretel ist da keine
Ausnahme: Eltern, die ihre Kinder
im Wald aussetzen, ein Junge, der
zum späteren Schlachten und Braten
von einer alten, einsamen Frau
gemästet wird, die dann ihrerseits
von zwei Kindern verbrannt
wird… das klingt nach FSK ab
16 Jahren. Aber Märchen haben
nicht nur eine
Unterhaltungsfunktion mit Warn-,
Lern- und Erziehungseffekt, durch
sie lassen sich auch Kinderängste
verarbeiten, in dem diese auf die
Märchenfiguren projiziert und
aufgelöst werden, weil am Ende
doch immer das Gute siegt und das
Böse bestraft wird. Es gibt
unzählige Abhandlungen und
Analysen, Sichtweisen und
Haltungen zu diesem Thema, das
nicht nur für Psychologen ein
wahres Festessen ist.
Brigitte Fassbaender hat
als Mezzosopranistin
Weltkarriere gemacht und
sich nach Ihrem
Bühnenabschied auch
einen Namen als
Regisseurin,
Librettistin,
Intendantin und
Gesangspädagogin
gemacht. Von 1995 bis
1997 war sie
Operndirektorin in
Braunschweig und half
dem Haus aus einer
Krise, in der es damals
steckte. Auch, aber
nicht nur deshalb ist
sie in Braunschweig ein
gern gesehener Gast.
Ihre Regiearbeiten sind
aus der eigenen Bühnen-
und Rollenerfahrung
gewachsen – sie war
selbst ein wunderbarer
Hänsel in Humperdincks
Märchenoper Hänsel und
Gretel, die sie jetzt
für das Staatstheater
Braunschweig neu
inszeniert hat. Dabei
stellt sie kein
klassisch bebildertes
Weihnachtsmärchen für
die ganze Familie auf
die Bühne, sondern
analysiert, projiziert,
ver- und entschlüsselt
gleichermaßen die
Figuren und Geschehnisse
dieses bekanntesten und
berühmtesten Märchens
der Brüder Grimm – das
in der Version der
Librettistin Adelheid
Wette allerdings schon
reichlich weichgespült
daherkommt.
Hänsel
(Carolin Löffler), Hexe (Matthias Stier)
Wer hat noch nie eine
Lehrerin, Erzieherin,
Gouvernante usw. mehr oder
weniger heimlich als
„Hexe“ beschimpft?
Fräulein Rottenmeier aus
Johanna Spyris Heidi
könnte ein
frankfurterisches Lied
davon singen – wenn sie
sich denn dazu herablassen
würde. Dabei sind es
meist eigene
Unsicherheiten und Ängste
vor Strafen, die den Hass
auf die, die einem etwas
zu sagen haben, schüren.
Die Hexe in der neuen
Braunschweiger Produktion
kommt wie eine Mischung
aus Fräulein Rottenmeier,
Dolores Umbridge (aus
Harry Potter – dessen
Geschichte im Endeffekt
auch ein Märchen ist) und
einem Transvestiten daher,
der es nicht einmal nötig
hat, zu seiner Verkleidung
den Vollbart abzunehmen.
Im letzten Bild entpuppt
er sich dann als
halb-brutaler,
halb-dusseliger
Menschfresser, der im
Schlachthaus mit blutroten
Kacheln und einem
archetypischen Ofen sein
Unwesen treibt. Hänsel
wird am Fleischhaken mit
Waage an die Wand gehängt
und Gretel werden zur
Fluchtverhinderung die
Schuhe ausgezogen – aus
denen der Widerling mit
blutiger Schürze dann
Schampus schlürft, womit
auch Ängste vor sexuellen
Übergriffen angedeutet,
aber glücklicherweise
nicht ausgeschmückt
werden. Wie konnte es dazu
kommen?
Hänsel
(Carolin Löffler), Gretel (Ekaterina
Kudryavtseva)
Die Hintergrundgeschichte, ohne
die sich das, was sich
erklärt, nicht erklären
würde, wird in
Filmeinspielungen zum
Vorspiel und Zwischenspiel
erzählt (Video: Grigory
Shklyar). Kinder der
Kriegs- oder
Nachkriegszeit lesen
zusammen ein Märchen, dann
werden sie mit
altmodischen
Eisenbahnzügen in das
„Hotel Ilsenstein“
gebracht, was stark an die
sogenannte
Kinderlandverschickung
erinnert. Das Reisen und
Verreisen löste damals
andere Gefühle aus als
heute. Viele Kinder
fühlten sich weggeschickt
– wie Hänsel und Gretel
von der Mutter in den Wald
– und hatten Angst vor
dem, was da kam und was
sie nicht kannten.
Empfangen werden sie hier
von der schon
beschriebenen unheimlich
wirkenden Frau. Blätter
des Märchenbuches und
Blätter des Waldes
verwehen miteinander. Das
Schloss, das als einziges
Bild im einfachen Haus der
Eltern hängt, wird zum
Spukschloss. Im Sessel
sitzend beißt die Hexe
einem Lebkuchenmann den
Kopf ab. Da weiß man schon
mal, wo es so ungefähr
langgehen wird.
Aber Fassbaender erzählt
die Geschichte nicht als
logische, sich konsequent
entwickelnde Handlung
eines Traumes oder einer
Vision, sie reiht Ideen
und Momente aneinander,
die verschiedene
Bühnenrealitäten
vermischen – dabei dann
aber auch viel Unlogisches
entstehen lassen. Etwas
irreal, wie mit
Wachsmalkreide angedeutet,
aber seltsam schief, steht
vor schwarzem Hintergrund,
mehr angedeutet als
gezeigt, das Innere des
Elternhauses auf der
Bühne. Einfache Möbel und
billige Bettwäsche deuten
Armut an. Umso prägnanter
fällt das schon
beschriebene Bild eines
Schlosses im Wald in den
Blick, das im Hintergrund
an der Wand hängt. Die
Personenregie ist hier
eher konventionell, zeigt
aber charmante Ideen und
Variationen, etwa, wenn
die beiden Kinder nicht
tanzen, sondern Gretel
versucht, sich an
Tanzschritte zu erinnern
und wenn Hänsel ein
strategisches Weinen
einsetzt, um der Strafe
für den zerbrochenen Topf
zu entrinnen. Der Vater
erscheint reichlich
überzogen hüpfend und
albernd wie ein
(erlösender?) Clown, nicht
wie ein übermütig
glücklich Angetrunkener.
Angemessen logisch
erscheinen die Eltern als
junge Menschen.
Hänsel (Carolin Löffler), Hexe (Matthias Stier),
Gretel (Ekaterina Kudryavtseva)
Nach
der Pause hat sich der Raum
mit einigen wenigen
Veränderungen zur Hotelbar
gewandelt. Der
Taumann-Barkeeper schlägt
zum „kling klang“ zwei
frisch polierte Gläser
aneinander und weckt die
Kinder mit „Tautropfen“ aus
dem Soda-Siphon. Das ist
fein auf Text und Musik
abgestimmt und eins zu eins
umgedeutet. Weihnachten ist
verschwunden, nur ein
kleines Tännchen auf dem
Kaminsims trägt noch Reste
seines Schmucks, den die
Hexe brutal abreißt und ins
Feuer wirft: Jetzt ist
Schluss mit lustig!
Geistreich ist, dass Gretel
direkt unter diesem Bäumchen
steht, wenn sie singt „Wo
bin ich? Wach' ich? Ist es
ein Traum? Hier lieg' ich
unterm Tannenbaum! Hoch in
den Zweigen da lispelt es
leise, Vöglein singen so süße
Weise wohl früh schon waren
sie aufgewacht…“. Aufgewacht
sind sie wohl kaum, denn sie
schaut auf die ausgestopften
Vögel, die über dem Kamin
hängen. Das Lebkuchenhaus
erscheint als große runde
Torte, die hereinfährt wie
die Geburtstagstorte in Some
Like It Hot. Die nun
zombieartig erscheinenden
Angestellten betteln mit
Tellern und Gabeln nach dem
Kuchen. Voraussehbar springt
dann auch die Hexe aus der
Torte und führt mit den
Kindern einen seltsamen
Tanzreigen auf. Indem die
großen Durchgänge
verschlossen werden und sich
eine safeartige Eingangstür
(Fritzl und Přiklopil lassen
grüßen) und ein großer Ofen
vor sie schiebt, entsteht
das schon oben beschriebene
Bild des Schlachthauses. Zum
Hexenritt schweben
verschieden Besen aus dem
Schnürboden, auf einem
reitet die Hexe tatsächlich
kurz mal über die Bühne.
Wenn sie verbrennt, sieht
man sie noch durchs
Ofenklappenfenster jammern.
Sie verbrennt aber nicht zu
einem Lebkuchen, ihre
sterblichen Überreste sind
ihr Gouvernanten-Hut mitsamt
Skalp, den der Vater im
Finale zum Zeichen der
Gerechtigkeit erklärt und
dazu singt, dass sie „selber
nun zum Kuchen ward“. Also
so hässlich ist der Hut nun
auch nicht, dass er aussieht
wie ein Kuchen auf dem
Kopf... Hänsel und Gretels
Eltern sind zusammen mit
anderen Eltern gekommen, die
auch ihre Kinder gesucht
haben. Die werden übrigens
nicht aus dem Stadium eines
Lebkuchendaseins erlöst
werden, sondern betreten die
Bühne selbständig mit ihren
Koffern und Kleidern aus der
Kriegs- oder Nachkriegszeit
und bekommen die Augen
geöffnet, indem ihnen Gretel
die Sonnenbrillen abnimmt.
Ein befremdliches Bild, das
verwirrt, zumal die Kinder
nicht wirklich glücklich und
befreit wirken. Diesen
Eindruck bekommt man erst,
wenn sie am Schluss von der
Bühne stürmen dürfen und ein
kleiner Junge die Tasche, in
die Gretel die Sonnenbrillen
gesammelt hat, wie eine
Trophäe in die Luft
schleudert. Was genau sollen
die Kinder aber nun
entbrillt mit anderen Augen
sehen? Vieles bleibt an
diesem Abend verschlüsselt
und unenträtselt.
Hexe (Matthias Stier, im Sessel),
Gretel (Ekaterina Kudryavtseva)
Der Vater ist ein Kasperl,
Hänsel hängt am Haken – aber nicht
leidend, sondern eher skurril
hampelnd. Beispiele für die
szenischen Versuche, die
Grausamkeit zu brechen, Irreales,
ja sogar Lustiges zu schaffen und
damit – wie es für Märchen typisch
ist, s. o. – das Grausame
erträglich zu machen und für
Kinder verarbeitbar. Aber auch,
wenn man es theoretisch erklären
kann, wird aus Bühne und Musik
kein großes Ganzes. Und das ist
besonders bedauerlich, denn Iván
López Reynoso entfaltet vom Pult
aus ein musikalisches Feuerwerk.
Rasche Tempi, die aber nie gehetzt
wirken, sondern schwung- und
elanvoll, prägnante
Akzentuierungen und ein großer
Bogen über vielen kleineren lassen
aus dem Orchester eine
Hänsel-und-Gretel-Symphonie
klingen. Obendrein animiert
Reynoso das Orchester zu einer
seiner qualitativen
Höchstleistungen. Dass es zuweilen
übermäßig präsent, im letzten Bild
oft hallig und manchmal ganz
einfach auch zu laut klingt, liegt
an der von mir so ungeliebten
elektronischen
„Akustikverbesserungsanlage“, die
insbesondere auch die
Gesangsstimmen anders und größer
klingen lässt. Diese akustische
Unterstützung stört Puristen, die
den echten und natürlichen Klang
bevorzugen.
Carolin Löffler ist ein
wundervoller Hänsel, der bei ihr
wirklich knabenhaft wirkt und auch
klingt. Ekaterina Kudryavtsevas
Sopran blüht substanzreich und
klangvoll in vielen Farben, klingt
aber schon mehr wie eine junge
Frau denn wie ein junges Mädchen.
Nana Dzidziguri als Mutter könnte
ihre Schwester sein, ihr Mezzo
besticht durch Klarheit und
jugendliche Frische, mit der auch
Maximilian Krummen als Vater
aufwarten kann und dabei einen
hochkultivierten und ausgesprochen
schön timbrierten Bariton mit
Liedgesangsqualitäten hören lässt.
Matthias Stier gelingen die
figürlichen Verwandlungen zur
Gouvernante und zum derben
Schlachtergesellen absolut
überzeugend. Und da er als Mann
einen Mann singen kann, verkneift
er sich jegliches Keifen und
Zetern und singt die Partie
tatsächlich mit klangvollem Tenor
und (fast) ohne die üblichen
Fisimatenten. Moritz Gildner
entzückt mit seinem engelsgleichen
zarten Knabensopran als
Sandmännchen, Jelena Banković
singt das Taumännchen mit
glockenreinen Tönen. Der
Kinderchor sang lieber etwas
vorsichtiger als überschwänglich,
brachte für den grandiosen
Schlusschor aber die nötige
Stimmkraft mit.
FAZIT
Eine
musikalisch sehr hörenswerte, eindrucksvoll
bebilderte, szenisch aber nicht wirklich
runde Produktion dieser wundervollen
Märchenoper, durch die viele Kinder ihren
ersten Kontakt zur Oper bekommen. Ob diese
Bühnenversion dazu geeignet ist, mögen
Eltern und Lehrer selbst entscheiden.
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Meinung ?
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Iván López Reynoso
Inszenierung
Brigitte Fassbaender
Bühne und Kostüme
Bettina
Munzer
Video
Grigory Shklyar
Kinderchor
Mike
Garling
Dramaturgie
Sarah Grahneis
Staatsorchester Braunschweig
Kinderchor des
Staatstheaters Braunschweig
Statisterie des
Staatstheaters Braunschweig
Solisten
*Besetzung der hier
besprochenen
Premiere
Hänsel
Jelena Kordić
*Carolin Löffler
Milda Tubelytė
Gretel
Jelena Bankovic
*Ekaterina Kudryavtseva
Hexe
Matthias Stier
Mutter
Nana Dzidziguri
Vater
*Maximilian Krummen
Vincenzo Neri
Sandmännchen
*Moritz
Gildner
Johannes Kranke
Taumännchen
*Jelena
Banković
Ekaterina Kudryavtseva
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Braunschweig
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