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Hänsel und Gretel

Märchenspiel in drei Bildern
Libretto von Adelheid Wette
Musik von Engelbert Humperdinck
 

in deutscher Sprache mit Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden 15 Minuten (eine Pause)

Premiere am 4. November 2017 im Großen Haus des Staatstheaters Braunschweig




Staatstheater Braunschweig
(Homepage)



Hänsel und Gretel verirrten sich im Schlachthaus


Von Bernd Stopka / Fotos von Thomas M. Jauk - stage picture


Märchen haben oft so grausame Elemente, dass man sich seit Ewigkeiten fragt, ob sie denn überhaupt etwas für Kinder sind. Hänsel und Gretel ist da keine Ausnahme: Eltern, die ihre Kinder im Wald aussetzen, ein Junge, der zum späteren Schlachten und Braten von einer alten, einsamen Frau gemästet wird, die dann ihrerseits von zwei Kindern verbrannt wird…  das klingt nach FSK ab 16 Jahren. Aber Märchen haben nicht nur eine Unterhaltungsfunktion mit Warn-, Lern- und Erziehungseffekt, durch sie lassen sich auch Kinderängste verarbeiten, in dem diese auf die Märchenfiguren projiziert und aufgelöst werden, weil am Ende doch immer das Gute siegt und das Böse bestraft wird. Es gibt unzählige Abhandlungen und Analysen, Sichtweisen und Haltungen zu diesem Thema, das nicht nur für Psychologen ein wahres Festessen ist.

Brigitte Fassbaender hat als Mezzosopranistin Weltkarriere gemacht und sich nach Ihrem Bühnenabschied auch einen Namen als Regisseurin, Librettistin, Intendantin und Gesangspädagogin gemacht. Von 1995 bis 1997 war sie Operndirektorin in Braunschweig und half dem Haus aus einer Krise, in der es damals steckte. Auch, aber nicht nur deshalb ist sie in Braunschweig ein gern gesehener Gast. Ihre Regiearbeiten sind aus der eigenen Bühnen- und Rollenerfahrung gewachsen – sie war selbst ein wunderbarer Hänsel in Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel, die sie jetzt für das Staatstheater Braunschweig neu inszeniert hat. Dabei stellt sie kein klassisch bebildertes Weihnachtsmärchen für die ganze Familie auf die Bühne, sondern analysiert, projiziert, ver- und entschlüsselt gleichermaßen die Figuren und Geschehnisse dieses bekanntesten und berühmtesten Märchens der Brüder Grimm – das in der Version der Librettistin Adelheid Wette allerdings schon reichlich weichgespült daherkommt.


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Hänsel (Carolin Löffler), Hexe (Matthias Stier)

Wer hat noch nie eine Lehrerin, Erzieherin, Gouvernante usw. mehr oder weniger heimlich als „Hexe“ beschimpft? Fräulein Rottenmeier aus Johanna Spyris Heidi könnte ein frankfurterisches Lied davon singen – wenn sie sich denn dazu herablassen würde.  Dabei sind es meist eigene Unsicherheiten und Ängste vor Strafen, die den Hass auf die, die einem etwas zu sagen haben, schüren. Die Hexe in der neuen Braunschweiger Produktion kommt wie eine Mischung aus Fräulein Rottenmeier, Dolores Umbridge (aus Harry Potter – dessen Geschichte im Endeffekt auch ein Märchen ist) und einem Transvestiten daher, der es nicht einmal nötig hat, zu seiner Verkleidung den Vollbart abzunehmen. Im letzten Bild entpuppt er sich dann als halb-brutaler, halb-dusseliger Menschfresser, der im Schlachthaus mit blutroten Kacheln und einem archetypischen Ofen sein Unwesen treibt. Hänsel wird am Fleischhaken mit Waage an die Wand gehängt und Gretel werden zur Fluchtverhinderung die Schuhe ausgezogen – aus denen der Widerling mit blutiger Schürze dann Schampus schlürft, womit auch Ängste vor sexuellen Übergriffen angedeutet, aber glücklicherweise nicht ausgeschmückt werden. Wie konnte es dazu kommen?

Vergrößerung in neuem
                        FensterHänsel (Carolin Löffler), Gretel (Ekaterina Kudryavtseva)

Die Hintergrundgeschichte, ohne die sich das, was sich erklärt, nicht erklären würde, wird in Filmeinspielungen zum Vorspiel und Zwischenspiel erzählt (Video: Grigory Shklyar). Kinder der Kriegs- oder Nachkriegszeit lesen zusammen ein Märchen, dann werden sie mit altmodischen Eisenbahnzügen in das „Hotel Ilsenstein“ gebracht, was stark an die sogenannte Kinderlandverschickung erinnert. Das Reisen und Verreisen löste damals andere Gefühle aus als heute. Viele Kinder fühlten sich weggeschickt – wie Hänsel und Gretel von der Mutter in den Wald – und hatten Angst vor dem, was da kam und was sie nicht kannten. Empfangen werden sie hier von der schon beschriebenen unheimlich wirkenden Frau. Blätter des Märchenbuches und Blätter des Waldes verwehen miteinander. Das Schloss, das als einziges Bild im einfachen Haus der Eltern hängt, wird zum Spukschloss. Im Sessel sitzend beißt die Hexe einem Lebkuchenmann den Kopf ab. Da weiß man schon mal, wo es so ungefähr langgehen wird.

Aber Fassbaender erzählt die Geschichte nicht als logische, sich konsequent entwickelnde Handlung eines Traumes oder einer Vision, sie reiht Ideen und Momente aneinander, die verschiedene Bühnenrealitäten vermischen – dabei dann aber auch viel Unlogisches entstehen lassen. Etwas irreal, wie mit Wachsmalkreide angedeutet, aber seltsam schief, steht vor schwarzem Hintergrund, mehr angedeutet als gezeigt, das Innere des Elternhauses auf der Bühne. Einfache Möbel und billige Bettwäsche deuten Armut an. Umso prägnanter fällt das schon beschriebene Bild eines Schlosses im Wald in den Blick, das im Hintergrund an der Wand hängt. Die Personenregie ist hier eher konventionell, zeigt aber charmante Ideen und Variationen, etwa, wenn die beiden Kinder nicht tanzen, sondern Gretel versucht, sich an Tanzschritte zu erinnern und wenn Hänsel ein strategisches Weinen einsetzt, um der Strafe für den zerbrochenen Topf zu entrinnen. Der Vater erscheint reichlich überzogen hüpfend und albernd wie ein (erlösender?) Clown, nicht wie ein übermütig glücklich Angetrunkener. Angemessen logisch erscheinen die Eltern als junge Menschen.


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Hänsel (Carolin Löffler), Hexe (Matthias Stier), Gretel (Ekaterina Kudryavtseva)

Nach der Pause hat sich der Raum mit einigen wenigen Veränderungen zur Hotelbar gewandelt. Der Taumann-Barkeeper schlägt zum „kling klang“ zwei frisch polierte Gläser aneinander und weckt die Kinder mit „Tautropfen“ aus dem Soda-Siphon. Das ist fein auf Text und Musik abgestimmt und eins zu eins umgedeutet. Weihnachten ist verschwunden, nur ein kleines Tännchen auf dem Kaminsims trägt noch Reste seines Schmucks, den die Hexe brutal abreißt und ins Feuer wirft: Jetzt ist Schluss mit lustig! Geistreich ist, dass Gretel direkt unter diesem Bäumchen steht, wenn sie singt „Wo bin ich? Wach' ich? Ist es ein Traum? Hier lieg' ich unterm Tannenbaum! Hoch in den Zweigen da lispelt es leise, Vöglein singen so süße Weise wohl früh schon waren sie aufgewacht…“. Aufgewacht sind sie wohl kaum, denn sie schaut auf die ausgestopften Vögel, die über dem Kamin hängen. Das Lebkuchenhaus erscheint als große runde Torte, die hereinfährt wie die Geburtstagstorte in Some Like It Hot. Die nun zombieartig erscheinenden Angestellten betteln mit Tellern und Gabeln nach dem Kuchen. Voraussehbar springt dann auch die Hexe aus der Torte und führt mit den Kindern einen seltsamen Tanzreigen auf. Indem die großen Durchgänge verschlossen werden und sich eine safeartige Eingangstür (Fritzl und Přiklopil lassen grüßen) und ein großer Ofen vor sie schiebt, entsteht das schon oben beschriebene Bild des Schlachthauses. Zum Hexenritt schweben verschieden Besen aus dem Schnürboden, auf einem reitet die Hexe tatsächlich kurz mal über die Bühne. Wenn sie verbrennt, sieht man sie noch durchs Ofenklappenfenster jammern. Sie verbrennt aber nicht zu einem Lebkuchen, ihre sterblichen Überreste sind ihr Gouvernanten-Hut mitsamt Skalp, den der Vater im Finale zum Zeichen der Gerechtigkeit erklärt und dazu singt, dass sie „selber nun zum Kuchen ward“. Also so hässlich ist der Hut nun auch nicht, dass er aussieht wie ein Kuchen auf dem Kopf... Hänsel und Gretels Eltern sind zusammen mit anderen Eltern gekommen, die auch ihre Kinder gesucht haben. Die werden übrigens nicht aus dem Stadium eines Lebkuchendaseins erlöst werden, sondern betreten die Bühne selbständig mit ihren Koffern und Kleidern aus der Kriegs- oder Nachkriegszeit und bekommen die Augen geöffnet, indem ihnen Gretel die Sonnenbrillen abnimmt. Ein befremdliches Bild, das verwirrt, zumal die Kinder nicht wirklich glücklich und befreit wirken. Diesen Eindruck bekommt man erst, wenn sie am Schluss von der Bühne stürmen dürfen und ein kleiner Junge die Tasche, in die Gretel die Sonnenbrillen gesammelt hat, wie eine Trophäe in die Luft schleudert. Was genau sollen die Kinder aber nun entbrillt mit anderen Augen sehen? Vieles bleibt an diesem Abend verschlüsselt und unenträtselt.

Bild folgtHexe (Matthias Stier, im Sessel), Gretel (Ekaterina Kudryavtseva)

Der Vater ist ein Kasperl, Hänsel hängt am Haken – aber nicht leidend, sondern eher skurril hampelnd. Beispiele für die szenischen Versuche, die Grausamkeit zu brechen, Irreales, ja sogar Lustiges zu schaffen und damit – wie es für Märchen typisch ist, s. o. – das Grausame erträglich zu machen und für Kinder verarbeitbar. Aber auch, wenn man es theoretisch erklären kann, wird aus Bühne und Musik kein großes Ganzes. Und das ist besonders bedauerlich, denn Iván López Reynoso entfaltet vom Pult aus ein musikalisches Feuerwerk. Rasche Tempi, die aber nie gehetzt wirken, sondern schwung- und elanvoll, prägnante Akzentuierungen und ein großer Bogen über vielen kleineren lassen aus dem Orchester eine Hänsel-und-Gretel-Symphonie klingen. Obendrein animiert Reynoso das Orchester zu einer seiner qualitativen Höchstleistungen. Dass es zuweilen übermäßig präsent, im letzten Bild oft hallig und manchmal ganz einfach auch zu laut klingt, liegt an der von mir so ungeliebten elektronischen „Akustikverbesserungsanlage“, die insbesondere auch die Gesangsstimmen anders und größer klingen lässt. Diese akustische Unterstützung stört Puristen, die den echten und natürlichen Klang bevorzugen.

Carolin Löffler ist ein wundervoller Hänsel, der bei ihr wirklich knabenhaft wirkt und auch klingt. Ekaterina Kudryavtsevas Sopran blüht substanzreich und klangvoll in vielen Farben, klingt aber schon mehr wie eine junge Frau denn wie ein junges Mädchen. Nana Dzidziguri als Mutter könnte ihre Schwester sein, ihr Mezzo besticht durch Klarheit und jugendliche Frische, mit der auch Maximilian Krummen als Vater aufwarten kann und dabei einen hochkultivierten und ausgesprochen schön timbrierten Bariton mit Liedgesangsqualitäten hören lässt. Matthias Stier gelingen die figürlichen Verwandlungen zur Gouvernante und zum derben Schlachtergesellen absolut überzeugend. Und da er als Mann einen Mann singen kann, verkneift er sich jegliches Keifen und Zetern und singt die Partie tatsächlich mit klangvollem Tenor und (fast) ohne die üblichen Fisimatenten. Moritz Gildner entzückt mit seinem engelsgleichen zarten Knabensopran als Sandmännchen, Jelena Banković singt das Taumännchen mit glockenreinen Tönen. Der Kinderchor sang lieber etwas vorsichtiger als überschwänglich, brachte für den grandiosen Schlusschor aber die nötige Stimmkraft mit. 


FAZIT

Eine musikalisch sehr hörenswerte, eindrucksvoll bebilderte, szenisch aber nicht wirklich runde Produktion dieser wundervollen Märchenoper, durch die viele Kinder ihren ersten Kontakt zur Oper bekommen. Ob diese Bühnenversion dazu geeignet ist, mögen Eltern und Lehrer selbst entscheiden.



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Iván López Reynoso

Inszenierung
Brigitte Fassbaender

Bühne und Kostüme
Bettina Munzer

Video
Grigory Shklyar

Kinderchor
Mike Garling

Dramaturgie
Sarah Grahneis


Staatsorchester Braunschweig

Kinderchor des
Staatstheaters Braunschweig

Statisterie des
Staatstheaters Braunschweig


Solisten

*Besetzung der hier besprochenen
Premiere

Hänsel
Jelena Kordić
*Carolin Löffler
Milda Tubelytė

Gretel
Jelena Bankovic
*Ekaterina Kudryavtseva

Hexe
Matthias Stier

Mutter
Nana Dzidziguri

Vater
*Maximilian Krummen
Vincenzo Neri

Sandmännchen
*Moritz Gildner
Johannes Kranke

Taumännchen
*Jelena Banković
Ekaterina Kudryavtseva


Weitere Informationen
erhalten Sie vom

Staatstheater Braunschweig
 (Homepage)





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