Bremen. Der Spiegel ist zerstört. Er ist keine glatte Fläche, in der sich ein vollständiges Abbild einfangen ließe, er gefällt sich aufgesplittet in Fragmente. Auch eine klare Perspektive bietet er daher nicht: Wer bin ich, und wo will ich hin? Ein riesiger Spiegel ist das Bühnen- und zugleich Sinnbild der Inszenierung von „Candide“ von Leonard Bernstein am Theater Bremen. Regisseur Marco Štorman hat das Stück inszeniert, am Sonnabend war Premiere.
Was ist das für ein Werk? Keine Oper, auch kein Musical, keine Operette oder gar ein Brecht-/Weillsches Lehrstück plus Musik. Und doch von allem ein bisschen, noch viel mehr und dann noch auf links gedreht. So wie die Hauptfigur in der Vorlage, Voltaires satirischem Roman „Candide ou L‘Optimisme“ („Candide oder der Optimismus“, 1759), sich als „Bastard“ bezeichnet, ist auch Bernsteins Werk musikalisch ein Mix, der die nachfolgende „Westside Story“ mehr als ahnen lässt. Doch es krankte stets und krankt immer noch an der Einrichtung des Romans für die Bühne. Die Uraufführung 1959 am Broadway war ein krachender Misserfolg, danach ist das Stück, „das einzige seiner Art, dessen genaue Inhaltsangabe – rasch vorgetragen – ebenso lange dauert wie das Musical selbst“ (Loriot), mehrfach umgeschrieben worden.
Anstrengend für das Publikum
Am Theater Bremen wird die Fassung des englischen Regisseurs John Caird von 1999 gespielt, die stark auf den philosophischen Streit zwischen den Aufklärern Voltaire und Leibniz und somit auf die Theorie fixiert ist. Das tut dem Bühnenwerk „Candide“ nicht gut – es wird unendlich viel gesprochen und das in Bremen zudem in oft schlecht artikuliertem Englisch, was ganz sicher Absicht ist und dazu beitragen soll, ironische Distanz zu verdeutlichen. Für das Publikum macht es diesen Theaterabend aber anstrengender, als er sein müsste.
Eher schwerblütig ist er sowieso, denn Sinnlichkeit ist nicht der Schlüsselbegriff für Štormans Inszenierung. Er geht mit der kühlen Analytik an die Sache heran, die das Spiegel-Bühnenbild von Beginn an erahnen lässt und die zuletzt seine „Parsifal“-Inszenierung in der vergangenen Spielzeit geprägt hat.
Die Geschichte ist wüst: Der unbedarfte Candide (Christian-Andreas Engelhardt) wächst als „Bastard“ eines Adligen in Westfalen auf, wird verstoßen, erlebt diverse Abenteuer in aller Welt (Krieg, Erdbeben, Inquisition ...) und ist dabei zunehmend mit einem Widerspruch konfrontiert. Denn er merkt, dass er doch nicht in „der besten aller Welten“ lebt. So hatte es ihm sein Lehrer Dr. Pangloss (Sprechrolle 1: Holger Bülow) ganz im Sinne Gottfried Wilhelm Leibniz‘ beigebracht. Doch da grätscht Voltaire (Sprechrolle 2: Moritz Löwe) dazwischen, der als Erzähler und Moderator durch den Abend führt.
Das kann man nur als quasi überkandidelte Farce machen oder eben assoziativ, ironisch und völlig losgelöst von allen zeithistorischen Ebenen. Štorman hat sich für Letzteres entschieden. Er kreiert beinahe Revue-artige Szenenbilder in dem sparsamen, sehr effektvollen Bühnenbild von Jil Bertermann. Bettina Werner hat dazu fantasievolle, farbenprächtige und teils opulente Kostüme entwerfen lassen, schiefe Ballkleider, Astronautenanzüge und riesigen Feder-Kopfschmuck. Außerdem vertraut Štorman seinem Sängerensemble und den Bremer Philharmonikern, was am Theater Bremen derzeit eine gute Idee ist. Christian-Andreas Engelhardt ist ein überzeugender Candide, der seinen warm tönenden Tenor zurücknehmen, aber auch musicalhaft aufdrehen kann, was bei der ständigen musikalischen Augenzwinkerei Bernsteins genau die richtige Mischung ist. Apropos Augenzwinkern: Da (und überhaupt) leistet Neria Pokvytyté als Candides Angebetete Cunigunde ganze Arbeit in dem hochschwierigen Song „Glitter and be gay“, der eine Parodie der typischen Belcanto-Koloratursopranarie ist. Bei Štorman gerät dieser Song zudem zu einem starken Bild gegen sexuelle Ausbeutung. Gut aufgelegt präsentieren sich auch Nathalie Mittelbach (The Old Woman), Irina Dziashko (Paquette ) und Birger Radde (Maximilian), flankiert von dem wie immer überzeugenden Chor. Christopher Ward galoppiert mit den Bremer Philharmonikern zunächst etwas zu nachlässig durch die Ouvertüre, das bekannteste Stück aus „Candide“. Danach allerdings gelingt es dem Orchester unter seiner Leitung tadellos, die Sänger auf der Bühne unterstützend nach vorne zu treiben.
Candide entscheidet sich schließlich: Er zieht sich aktiv aus der bösen Welt zurück ins Schrebergärtchen. Dort allerdings erwartet ihn Stacheldraht – denn das Paradies ist nirgendwo, wie alle Bewohner der Moderne, Post- und Postpost-Moderne schon lange wissen. Freundlicher Applaus, vor allem fürs Ensemble.