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Ich bin nicht Violetta.Von Stefan Schmöe / Fotos von Marco Borggreve © Nederlandse Reisopera
Was bewegt eine moderne junge Frau dazu, die Liebe ihres Lebens von jetzt auf gleich aufzugeben, nur weil der Schwiegervater in spe der Liaison wegen um den Ruf der Familie fürchtet? Noch dazu darf der geliebte Mann gar nichts von den Beweggründen wissen, muss sich also hintergangen fühlen. Ungeachtet der ungebrochen großen Faszination der Oper ist der moralische Konflikt der Traviata tief im 19. Jahrhundert verwurzelt, jedenfalls aus der Perspektive des liberalen Bildungsbürgertums, das heute in Deutschland oder in diesem Fall in den Niederlanden das Opernpublikum stellt. Für das Uraufführungspublikum von 1853 besaß das Sujet ja zeitgenössische Brisanz (ganz im Gegensatz zur - ansonsten auch bei Verdi - vorherrschenden Historienoper); heute löst die Überblendung von der schönen, gleichzeitig totkranken Verführerin, von femme fatale und femme fragile, wohlige Schauer aus, ein musikalischer Historienroman von erlesener Schönheit. Noch dazu hat Verdi das musikdramaturgisch ziemlich holzschnittartig montiert, hat die introvertierten Arien der Violetta recht drastisch kontrastiert mit dem naiv unreflektierten Überschwang ihres Liebhabers Alfredo, dem moralisierenden Gestus von dessen Vater und der grundierenden grellen Partystimmung der Pariser Gesellschaft. Die allermeisten Inszenierungen sind sich dann ja auch ziemlich ähnlich in ihrer Fokussierung auf die sterbende Violetta und verlieren die Vorgeschichte aus den Augen. Erotische Party im ziemlich leeren Schloss
Floris Visser bietet in seiner Regie für die Nederlandse Reisopera ein auf den ersten Blick ziemlich drastisches Erklärungsmodell für Violettas edlen Verzicht. Bereits als vorpubertäres Kind, so die These, wurde sie von ihrem Vater an Männer verkauft. Das ist starker (schwer verdaulicher) Tobak, wobei sich Visser gar nicht für den Aspekt der Kinderpornographie oder gar Kindesprostitution interessiert, sondern zeigen will, wie Violettas Lebensweg eben dadurch vorbestimmt und festgelegt wurde: Einmal Prostituierte, immer Prostituierte. Es gibt eine Welt vor diesem Sündenfall, ein Paradies der frühen und unbeschwerten Kindheit, in dem Violetta mit einem kleinen Jungen im Schilf spielt - hinter einem großen Spiegel des leeren, spätbarocken Saals, der für fast alle Szenen das Bühnenbild darstellt, sieht man immer wieder Rückblenden. Einen kurzen Moment lang glaubt Violetta, in dieses Paradies zurückgefunden zu haben, nämlich am Beginn des zweiten Aktes, wo sie sich mit Alfredo zurückgezogen in einer Schilflandschaft übermütig herum wälzt. Alfredos Vater allerdings lässt unbarmherzig den Vorhang dahinter hochfahren und den Blick freigeben auf die kindliche Prostituierte. Ließ Max Frisch seinen Roman Stiller mit dem berühmten Satz "Ich bin nicht Stiller." beginnen, so scheint diese Traviata sagen zu wollen: "Ich bin nicht Violetta" - nicht die Violetta, auf deren Rolle als Edelprostituierte sie alle festlegen wollen. "Bist Du doch, jedenfalls in den Augen der Männer, Alfredo eingeschlossen", entgegnet Giorgio Germont (und wird doch derjenige sein, der ihr aus ebendieser Rolle hinaus hilft, wenn er ihr ganz bildlich einen Mantel überlegt und damit die Reizwäsche überdeckt, mit der sie in der Gesellschaft aufzutreten pflegt). Alfredo und Violetta kommen sich nur allmählich näher
Der Gedankengang um Selbst- und Fremdbestimmtheit, um Identität und Rolle, legt einen durchaus spannenden Aspekt der Geschichte frei. Ob das Bild des missbrauchten Kindes der geeignete Schlüssel ist, das ist eine andere Sache - die Inszenierung bekommt einen arg reißerischen Beigeschmack, zumal Visser dieses Bild überstrapaziert. Überhaupt setzt er allzu sehr auf visuelle Knalleffekte. Da sind etwa Türen, die punktgenau auf Tutti-Akkorde der Musik aufspringen; da ist aber der recht aufdringlich geratene Umgang mit Sexualität. Die Frauen treten fast durchweg in Reizwäsche auf, eben auch Violetta, und selbst die knappen BHs fallen schnell. Es macht einen Unterschied, ob eine Inszenierung den Voyeurismus der Männer darstellen möchte oder selbst voyeuristisch wird, und dieser Unterschied verwischt hier. Im Hintergrund sieht man, was Männer wollen - Giorgio Germont erklärt Violetta die Welt
An anderen Stellen bleibt die Regie ziemlich unklar. Ist das nun speziell die Violetta, die in die Rolle als Sexobjekt gedrängt wird, oder will Visser hier ein vorherrschendes Frauenbild spiegeln? Welche Rolle nimmt Alfredo ein, der szenisch kaum Konturen besitzt? Und welche Bedeutung kommt dem Sterben Violettas in diesem Kontext zu? Zudem verweist Visser im Programmheft auf Stanley Kubricks letzte Film Eyes Wide shut, der sich mit Fragen nach verdrängter Sexualität und unausgelebten erotischen Fantasien auseinander setzt (man erahnt ein paar bildliche Anspielungen daran in dem Geisterschloss, in dem diese Traviata spielt), aber wirklich plausibel wird diese Querverbindung nicht. Und so kann Visser nicht verhindern, dass auch diese Regie letztendlich konventionell wirkt, eben wie so viele andere Traviata-Inszenierungen, weil sie in der Bildsprache dann doch auf den üblichen Gegensatz hinausläuft: Hier die erotische Verführerin, dort die unser Mitgefühl ansprechende sterbende Frau. Das Identitätsfindungsproblem bleibt dazwischen irgendwie auf der Strecke. Trauriges Finale, konventiomnell gezeichnet.
Urška Arlič Gololičič ist eine stimmlich wie körperlich sehr attraktive Violetta. An dramatischer Intensität fehlt es noch, das warme Timbre ihres leuchtenden Soprans zeichnet die Figur recht lyrisch, mit ihrer Bühnenpräsenz verleiht sie ihr szenisches Gewicht. Jesús Garcia singt einen soliden Alfredo, sicher in der Höhe, ein wenig neutral im Ausdruck. Anthony Michaels-Moore ist ein keineswegs altväterlicher Giorgio Germont mit klar fokussiertem, kraftvollem und leicht metallischem Bariton. Sehr konzentriert und genau singt der Chor Consensus Vocalis mit schlankem Klang, und am Pult des recht guten Orchesters der Provinz Gelderland Het Gelders Orkest sorgt der gerade einmal 24-jährige, in Venezuela geborene Dirigent Ilyich Rivas für eine sachlich-unprätentiöse, mitunter etwas brave musikalische Interpretation, die sich noch mehr Freiheiten erlauben könnte, aber auch ihre bewegende Momente hat.
Sicher keine schlechte Regie, die Floris Visser hier zeigt, die aber ihre Grundidee in allzu vordergründigen Bildern verpackt und konventioneller aussieht, als sie sein möchte. Musikalisch präsentiert sich die Reisopera auf sehr gutem Niveau. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Ausstattung
Licht
Choreographie
Solisten
Violetta Valéry
Alfredo Germont
Giorgio Germont
Flora Bervoix
Annina
Gastone
Barone Douphol
Marchese d'Obigny
Dottore Grenvil
Giuseppe
Kommissionär
Tänzer
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