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Schein
und Sein und Wunsch und Wirklichkeit Von Bernd Stopka / Fotos von Jörg Landsberg
Hülsdorf-Gotha
ist ein gutbürgerliches, braves, anständiges,
ordentliches und furchtbar langweiliges
deutsches Städtchen, dessen Biederkeit einen
reichen Nährboden für alles bildet, was
Abwechslung und Spannung ins Leben bringt. Der
Zuzug eines geheimnisumwobenen adeligen
englischen Gelehrten, der sich dem
gesellschaftlichen Leben der Stadt entzieht,
wirkt wie ein Saatkorn auf diesem Boden. Eine
Saat, die aufgeht und vielfältig austreibt.
Etwas Unbekanntes, Geheimnisvolles regt
Fantasien und Vorstellungen bekanntermaßen viel
mehr an, als offensichtliche Tatsachen – zu
denen Fantasien in der eigenen Vorstellung ja
leicht werden. Viel zu leicht, wie die komische
Oper Der junge Lord von Hans Werner Henze auf
ein Libretto von Ingeborg Bachmann einmal mehr
beweist. Edward Mout (l.), Josy Santos, Martin Busen, Frank Schneiders, Carmen Fuggiss, Marco Vassalli Der Neuankömmling Sir Edgar spielt mit seinen neuen Nachbarn ein gemeines Spiel – und da er als Gelehrter angekündigt wird, liegt die Annahme nah, dass es sich um ein gesellschaftlich-wissenschaftliches Experiment handelt. Er gibt sich unnahbar und wird so in den Augen der Bürger schnell von einem Edlen zu einem Arroganten. Obendrein enttäuscht er die Hoffnungen auf wirtschaftliche Unterstützung des fiktiven Städtchens, gibt andererseits aber einem fahrenden Zirkus Geld und – noch schlimmer – gewährt den Artisten Einlass in sein Haus, was er den braven Bürgern bisher verwehrt. Hoffnungen werden zu Enttäuschungen und Ärger, Fremdenfeindlichkeit und Brutalität. Mit der Nichte einer reichen Baronin, die eigentlich schon anderweitig verliebt ist, aber standesgemäß an den Mann gebracht werden soll, möchte der Engländer seinen Neffen verheiraten. Zu dessen Einführung in die Gesellschaft werden die Bürger nun endlich ins Haus eingelassen. Mit gewissem Befremden bewundert man die komischen Manieren des jungen Lords und ahmt ihn sogar nach. Doch bei der anschließenden Verlobung entpuppt er sich als dressierter Zirkus-Affe. "Der wesentliche Gegenstand dieses Stücks ist: die Lüge. Sie wird geboren aus unersättlicher Neugier, betrogenen materiellen Hoffnungen, provinzieller Angeberei und beleidigter Eitelkeit.“ (Hans Werner Henze). Rebecca Davis, Simon Bode Das
wundervolle Libretto von Ingeborg Bachmann
nimmt immer wieder, oft nur andeutungsweise,
die Diskrepanz von Schein und Sein, Bedeutung
und Übertreibung, Wunsch und Wirklichkeit auf.
Ein Beispiel: Immer wieder wird ironisch auf
das Anspruchsvolle der deutschen Sprache
hingewiesen, Goethe genannt usw. Wenn es dann
einmal heißt „Licht! Mehr Licht!“ denkt man
sofort an die legendenhaft letzten Worte des
Geheimrats, in die unglaublich viel Tiefsinn
hineininterpretiert wurde. Nach einer weniger
bedeutungsschwangeren Überlieferung soll er
aber einfach nur frankfurterisch gesagt haben
wollen „mer licht des Plumot so schwer auf de
Brust“ – konnte den Satz ablebungsbedingt aber
nicht mehr vollenden. Henze und Bachmann belehren hier aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern zeigen humorvoll augenzwinkernd menschliche Schwächen auf, die zu gesellschaftlichen Komplikationen führen, aber doch so, dass jeder die Botschaft verstehen kann. Regisseur Bernd Mottl macht das Gleiche und erliegt nicht der Versuchung, die offensichtlichen Parallelen zur heutigen Zeit durch optische Modernisierung überdeutlich zu machen. Er erzählt die Geschichte humorvoll mit den Mitteln der Satire, der Groteske, der Ironie, der Stilisierung und des schon genannten allgegenwärtigen Augenzwinkerns, das auch die Musik durchzieht. Wo er überzeichnet, überzeichnet er bewusst, bleibt aber immer komisch und wird nie albern – eine hohe Kunst, die nicht viele beherrschen. So gehen beispielsweise Lord Edgar und sein Sekretär am Ende nicht laut lachend, die vorgeführten Bürger nicht auslachend, von der Bühne, sondern mit lausbübisch-frechem Grinsen. Stefan Adam, Frank Schneiders (kniend), Marco Vassalli, Franz Mazura, Martin Busen, Edward Mout, Statisterie
Bühnenbildner Friedrich Eggert nimmt das
Schwarz-Weiß-Denken der Hülsdorf-Gothaer auf,
lässt die Szene auf einem Schachbrettboden in
verschiedenen Stufenebenen spielen, bedient sich
ausgiebig der klassischen Theatertechnik mit
Hubpodien, Hängern und Gassen, mit denen er den
Bühnenraum gestaltet, begrenzt, erweitert. Mit
weißer Spitzenborte verziert, karikieren diese
Hänger nicht nur die
Spitzendeckchen-Bürgerlichkeit, sondern wirken
zuweilen auch wie bezahnte Lästermäuler. Der scheinbar endlos lange Konzertflügel im Salon der Baronin, hinter dem sich ihre Besucherinnen zum simultanen Teeschlürfen versammelt haben, der Schneemann, der am Ende erst schmelzend in sich zusammensinkt und dann sehr lebendig von der Bühne läuft, die Dinosaurierskelette im Haus Sir Edwards und dieses Haus selbst, das als einfacher Scherenschnitt in verschiedenen Größen (= Perspektiven) allgegenwärtig ist, sollen nicht unerwähnt bleiben. Der dressierte Affe sieht aus wie eine Mischung aus Prince und Michael Jackson im goldenen Kostüm. Die einstudierten Gesten wirken steif und förmlich, natürlich dagegen die zwischenzeitlichen animalischen Ausbrüche, wie das Zertrümmern einer Gipsbüste, die dem alten Henze ähnelt. Wenn er seinen Cocktail hinter sich wirft, der (durchaus librettobezogen) im Totenschädel-Becher serviert wird, machen ihm das einige sofort nach. Sehr überzeugend ist die Ballszene gelöst: Nicht alle Gäste ahmen seine wilden Tänze nach. Vielmehr imitiert ihn das Ballett, gibt die eigene Choreographie auf, gebärdet sich nicht nur immer mehr wie Affen, die Männer tragen auf einmal auch die gleiche Frisur und das gleiche Outfit wie der vermeintliche junge Lord. Eine bitterböse Andeutung zu Moden und Trends, die im Schlussbild dann sehr ernst wird: Die Bürger versinken (vor Scham?) in den Bühnenboden, die Hinterbühne wird sichtbar (der Theaterzauber weicht der Realität) und im Hintergrund sitzt der Zirkusaffe mit goldener Krone. Eine unmissverständliche Warnung. Julie-Marie Sundal (l.), Sung-Keun Park, Rebecca Davis, Ensemble Mark Rohde hält die musikalischen Fäden am Dirigentenpult nicht nur zusammen, sondern entfacht geradezu ein musikalisches Feuerwerk voller Verve und Elan und lässt die Funken zwischen Graben, Bühne und Zuschauerraum kräftig sprühen. Das Orchester zeigt sich im nicht unkomplizierten Zusammenspiel ebenso wie mit vielfältigen solistischen Leistungen in Bestform. Das erlesene Sängerensemble bewegt sich auf hohem Niveau, lässt fast nichts zu wünschen übrig und zeigt sich auch szenisch mit offensichtlichem Vergnügen als satirisch überzeichnete Typen. Julie-Marie Sundal ist eine herrlich intrigante, eitle Baronin, Rebecca Davis eine, insbesondere in ihrer großen, surreal wirkenden Szene vor der Verlobungsfeier, anrührende Luise und Simon Bode ihr herzerwärmender Wilhelm, der als erster das falsche Spiel durchschaut. Als Affen-Lord kann Sung-Keun Park sowohl stimmlich als auch ausgesprochen spielfreudig und -begabt überzeugen. Stefan Adam gibt den Sekretär und Sprecher des stummen Sirs mit Würde und einem gewissen Maß Verschmitztheit. Mit seiner nach wie vor unglaublichen Bühnenpräsenz ist der inzwischen 93jährige Franz Mazura eine Idealbesetzung für den Sir Edward. Martin Busen ist ein trotteliger, um Würde bemühter Bürgermeister, Tichina Vaughn begeistert als trinkfreudige, sinnliche Köchin Begonia und Gihoon Kim als Lichtputzer (= Laternenreiniger). Auch der Rest des großen Ensembles ist adäquat besetzt. Der groß besetzte Chor macht seine Sache ganz ausgezeichnet, ebenso wie der Kinderchor, dem insbesondere für die Kombination von szenischer Lebendigkeit und kraftvoll sicherem Gesang ein Extralob gebührt.
FAZIT |
ProduktionsteamMusikalische Leitung Inszenierung Bühne Kostüme Licht Choreographie Chor Kinderchor Dramaturgie
Niedersächsisches
Chor und Kinderchor der Bewegungschor
und Statisterie der
Solisten
Sir Edgar
Sekretär
Lord Barrat
Begonia
Bürgermeister
Oberjustizrat Hasentreffer
Ökonomierat Scharf
Professor von Mucker
Baronin Grünwiesel
Frau von Hufnagel
Frau Oberjustizrat Hasentreffer
Luise
Ida
Ein Kammermädchen
Wilhelm
Amintore La Rocca
Ein Lichtputzer
1. Junger Herr
2. Junger Herr
3. Junger Herr Weitere
Informationen
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