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Der junge Lord

Komische Oper in zwei Akten (1964)
Text von Ingeborg Bachmann nach der Parabel Der Affe als Mensch aus Wilhelm Hauffs Märchensammlung Der Scheik von Alexandria und seine Sklaven (1827)
Musik von Hans Werner Henze


in deutscher Sprache mit deutschen Übertexten

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden 45 Minuten (eine Pause)

Premiere in der Staatsoper Hannover am 2. September  2017

 



Staatsoper Hannover
(Homepage)

Schein und Sein und Wunsch und Wirklichkeit

Von Bernd Stopka / Fotos von Jörg Landsberg

Hülsdorf-Gotha ist ein gutbürgerliches, braves, anständiges, ordentliches und furchtbar langweiliges deutsches Städtchen, dessen Biederkeit einen reichen Nährboden für alles bildet, was Abwechslung und Spannung ins Leben bringt. Der Zuzug eines geheimnisumwobenen adeligen englischen Gelehrten, der sich dem gesellschaftlichen Leben der Stadt entzieht, wirkt wie ein Saatkorn auf diesem Boden. Eine Saat, die aufgeht und vielfältig austreibt. Etwas Unbekanntes, Geheimnisvolles regt Fantasien und Vorstellungen bekanntermaßen viel mehr an, als offensichtliche Tatsachen – zu denen Fantasien in der eigenen Vorstellung ja leicht werden. Viel zu leicht, wie die komische Oper Der junge Lord von Hans Werner Henze auf ein Libretto von Ingeborg Bachmann einmal mehr beweist.
Mit diesem viel zu selten gespielten Werk aus dem Jahr 1964 eröffnet die Staatsoper Hannover fulminant die neue Spielzeit und setzt damit erneut einen Schwerpunkt auf die Pflege zeitgenössischer Opern. Nach Die englische Katze (unsere Rezension) in der letzten Spielzeit nun also eine weitere Henze-Oper.

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Edward Mout (l.), Josy Santos, Martin Busen, Frank Schneiders, Carmen Fuggiss, Marco Vassalli

Der Neuankömmling Sir Edgar spielt mit seinen neuen Nachbarn ein gemeines Spiel – und da er als Gelehrter angekündigt wird, liegt die Annahme nah, dass es sich um ein gesellschaftlich-wissenschaftliches Experiment handelt. Er gibt sich unnahbar und wird so in den Augen der Bürger schnell von einem Edlen zu einem Arroganten. Obendrein enttäuscht er die Hoffnungen auf wirtschaftliche Unterstützung des fiktiven Städtchens, gibt andererseits aber einem fahrenden Zirkus Geld und – noch schlimmer – gewährt den Artisten Einlass in sein Haus, was er den braven Bürgern bisher verwehrt. Hoffnungen werden zu Enttäuschungen und Ärger, Fremdenfeindlichkeit und Brutalität. Mit der Nichte einer reichen Baronin, die eigentlich schon anderweitig verliebt ist, aber standesgemäß an den Mann gebracht werden soll, möchte der Engländer seinen Neffen verheiraten. Zu dessen Einführung in die Gesellschaft werden die Bürger nun endlich ins Haus eingelassen. Mit gewissem Befremden bewundert man die komischen Manieren des jungen Lords und ahmt ihn sogar nach. Doch bei der anschließenden Verlobung entpuppt er sich als dressierter Zirkus-Affe. "Der wesentliche Gegenstand dieses Stücks ist: die Lüge. Sie wird geboren aus unersättlicher Neugier, betrogenen materiellen Hoffnungen, provinzieller Angeberei und beleidigter Eitelkeit.“ (Hans Werner Henze).

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Rebecca Davis, Simon Bode

Das wundervolle Libretto von Ingeborg Bachmann nimmt immer wieder, oft nur andeutungsweise, die Diskrepanz von Schein und Sein, Bedeutung und Übertreibung, Wunsch und Wirklichkeit auf. Ein Beispiel: Immer wieder wird ironisch auf das Anspruchsvolle der deutschen Sprache hingewiesen, Goethe genannt usw. Wenn es dann einmal heißt „Licht! Mehr Licht!“ denkt man sofort an die legendenhaft letzten Worte des Geheimrats, in die unglaublich viel Tiefsinn hineininterpretiert wurde. Nach einer weniger bedeutungsschwangeren Überlieferung soll er aber einfach nur frankfurterisch gesagt haben wollen „mer licht des Plumot so schwer auf de Brust“ – konnte den Satz ablebungsbedingt aber nicht mehr vollenden.
Formal an der Opera buffa orientiert, lässt Henze in Der junge Lord viele seiner verstorbenen Komponistenkollegen anklingen oder assoziieren. Mozart (ganz konkret mit von einer Blaskapelle angespieltem Originalzitat des „Bassa Selim lebe lange“ aus der Entführung zur Begrüßung Sir Edwards), Rossini, Strawinsky und viele mehr. Er verwendet volksliedhafte Strukturen ebenso wie klassische Rhythmen und Tänze. Die Musik ist ausgesprochen farbenreich, intelligent-witzig, sprüht vor Elan und Energie – macht einfach ganz viel Spaß und tut in ihrer Modernität keinesfalls weh. Doch wenn zwei Männer „Schande“ auf die Hauswand des Engländers schmieren, wenn der dunkelhäutige Diener von Kindern verspottet wird und wenn die verblendeten Bürger das exzentrische Verhalten des jungen Lords (des tatsächlichen Affen) nachahmen – dann entpuppt sich diese komische Oper als bitterböse und erschreckend aktuelle Gesellschaftssatire. Hülsdorf-Gotha ist überall – auch wenn andere Städte schönere Namen haben.

Henze und Bachmann belehren hier aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern zeigen humorvoll augenzwinkernd menschliche Schwächen auf, die zu gesellschaftlichen Komplikationen führen, aber doch so, dass jeder die Botschaft verstehen kann. Regisseur Bernd Mottl macht das Gleiche und erliegt nicht der Versuchung, die offensichtlichen Parallelen zur heutigen Zeit durch optische Modernisierung überdeutlich zu machen. Er erzählt die Geschichte humorvoll mit den Mitteln der Satire, der Groteske, der Ironie, der Stilisierung und des schon genannten allgegenwärtigen Augenzwinkerns, das auch die Musik durchzieht. Wo er überzeichnet, überzeichnet er bewusst, bleibt aber immer komisch und wird nie albern – eine hohe Kunst, die nicht viele beherrschen. So gehen beispielsweise Lord Edgar und sein Sekretär am Ende nicht laut lachend, die vorgeführten Bürger nicht auslachend, von der Bühne, sondern mit lausbübisch-frechem Grinsen.

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Stefan Adam, Frank Schneiders (kniend), Marco Vassalli, Franz Mazura, Martin Busen, Edward Mout, Statisterie

Bühnenbildner Friedrich Eggert nimmt das Schwarz-Weiß-Denken der Hülsdorf-Gothaer auf, lässt die Szene auf einem Schachbrettboden in verschiedenen Stufenebenen spielen, bedient sich ausgiebig der klassischen Theatertechnik mit Hubpodien, Hängern und Gassen, mit denen er den Bühnenraum gestaltet, begrenzt, erweitert. Mit weißer Spitzenborte verziert, karikieren diese Hänger nicht nur die Spitzendeckchen-Bürgerlichkeit, sondern wirken zuweilen auch wie bezahnte Lästermäuler.
Alfred Mayerhofers Kostüme der Städter sind rabenschwarz, aber vielfältig und aufwändig gestaltet, wirken uniform und doch individuell. Herrlich die protzige Perlenkette der Baronin, die so groß und lang ist, dass sie sie wie eine Stola tragen muss, köstlich die übergroßen Zylinder einiger Herren. Geradezu verrucht Sir Edwards rote Brille, der zu seinem blauen Anzug grüne Socken trägt, mit Gepäck und Gefolge in Goldfolie verpackt in das Städtchen getragen wird und selbst seine Briefe auf goldenem Papier schreiben lässt. Sir Edward bringt mit seinem multinationalen Gefolge in archetypischer Kostümierung Farbe ins Städtchen und so verwundert es nicht, dass ihn die bunte Welt des Zirkus‘ fasziniert, den die anderen mit distanzierter Faszination und ohne Bereitschaft, etwas Geld in den Sammelhut zu legen, betrachten. Umso mehr schockiert sie die finanzielle Großzügigkeit des Engländers für den Zirkus. In diesem Zusammenhang gibt es einen Widerspruch in der Inszenierung: Sir Edward tritt aus dem Haus und verteilt Bonbons an die Kinder der Stadt, die nach seiner Spende an den Zirkus laut klagen, dass er für sie nichts übrig hat, dass sie von ihm nie etwas bekommen. Möglich, dass hier Undankbarkeit gezeigt werden soll und der Neid, dass andere mehr bekommen. Aber diese kurze Szene widerspricht dem ansonsten ganz eindeutig gezeigten Charakter der Figur.

Der scheinbar endlos lange Konzertflügel im Salon der Baronin, hinter dem sich ihre Besucherinnen zum simultanen Teeschlürfen versammelt haben, der Schneemann, der am Ende erst schmelzend in sich zusammensinkt und dann sehr lebendig von der Bühne läuft, die Dinosaurierskelette im Haus Sir Edwards und dieses Haus selbst, das als einfacher Scherenschnitt in verschiedenen Größen (= Perspektiven) allgegenwärtig ist, sollen nicht unerwähnt bleiben.

Der dressierte Affe sieht aus wie eine Mischung aus Prince und Michael Jackson im goldenen Kostüm. Die einstudierten Gesten wirken steif und förmlich, natürlich dagegen die zwischenzeitlichen animalischen Ausbrüche, wie das Zertrümmern einer Gipsbüste, die dem alten Henze ähnelt. Wenn er seinen Cocktail hinter sich wirft, der (durchaus librettobezogen) im Totenschädel-Becher serviert wird, machen ihm das einige sofort nach. Sehr überzeugend ist die Ballszene gelöst: Nicht alle Gäste ahmen seine wilden Tänze nach. Vielmehr imitiert ihn das Ballett, gibt die eigene Choreographie auf, gebärdet sich nicht nur immer mehr wie Affen, die Männer tragen auf einmal auch die gleiche Frisur und das gleiche Outfit wie der vermeintliche junge Lord. Eine bitterböse Andeutung zu Moden und Trends, die im Schlussbild dann sehr ernst wird: Die Bürger versinken (vor Scham?) in den Bühnenboden, die Hinterbühne wird sichtbar (der Theaterzauber weicht der Realität) und im Hintergrund sitzt der Zirkusaffe mit goldener Krone. Eine unmissverständliche Warnung.

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Julie-Marie Sundal (l.), Sung-Keun Park, Rebecca Davis, Ensemble

Mark Rohde hält die musikalischen Fäden am Dirigentenpult nicht nur zusammen, sondern entfacht geradezu ein musikalisches Feuerwerk voller Verve und Elan und lässt die Funken zwischen Graben, Bühne und Zuschauerraum kräftig sprühen. Das Orchester zeigt sich im nicht unkomplizierten Zusammenspiel ebenso wie mit vielfältigen solistischen Leistungen in Bestform. Das erlesene Sängerensemble bewegt sich auf hohem Niveau, lässt fast nichts zu wünschen übrig und zeigt sich auch szenisch mit offensichtlichem Vergnügen als satirisch überzeichnete Typen. Julie-Marie Sundal ist eine herrlich intrigante, eitle Baronin, Rebecca Davis eine, insbesondere in ihrer großen, surreal wirkenden Szene vor der Verlobungsfeier, anrührende Luise und Simon Bode ihr herzerwärmender Wilhelm, der als erster das falsche Spiel durchschaut. Als Affen-Lord kann Sung-Keun Park sowohl stimmlich als auch ausgesprochen spielfreudig und -begabt überzeugen. Stefan Adam gibt den Sekretär und Sprecher des stummen Sirs mit Würde und einem gewissen Maß Verschmitztheit. Mit seiner nach wie vor unglaublichen Bühnenpräsenz ist der inzwischen 93jährige Franz Mazura eine Idealbesetzung für den Sir Edward. Martin Busen ist ein trotteliger, um Würde bemühter Bürgermeister, Tichina Vaughn begeistert als trinkfreudige, sinnliche Köchin Begonia und Gihoon Kim als Lichtputzer (= Laternenreiniger). Auch der Rest des großen Ensembles ist adäquat besetzt. Der groß besetzte Chor macht seine Sache ganz ausgezeichnet, ebenso wie der Kinderchor, dem insbesondere für die Kombination von szenischer Lebendigkeit und kraftvoll sicherem Gesang ein Extralob gebührt.

FAZIT

Mit einem wundervollen, beglückenden Opernabend, an dem auch viel gelacht werden darf, startet die Staatoper Hannover fulminant in die neue Saison. Die Inszenierung beweist, dass man die Aktualität eines Werkes nicht durch modernisierte Bebilderung verdeutlichen muss. Auch musikalisch glänzt die Produktion auf ganz hohem Niveau.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Mark Rohde

Inszenierung
Bernd Mottl

Bühne
Friedrich Eggert

Kostüme
Alfred Mayerhofer

Licht
Sascha Zauner

Choreographie
Anastasiya Bobrykova

Chor
Dan Ratiu

Kinderchor
Heide Müller
Dan Ratiu

Dramaturgie
Christopher Baumann

 

Niedersächsisches
Staatsorchester Hannover

Chor und Kinderchor der
Staatsoper Hannover

Bewegungschor und Statisterie der
Staatsoper Hannover


Solisten

Sir Edgar
Franz Mazura

Sekretär
Stefan Adam

Lord Barrat
Sung-Keun Park

Begonia
Tichina Vaughn

Bürgermeister
Martin Busen

Oberjustizrat Hasentreffer
Frank Schneiders

Ökonomierat Scharf
Marco Vassalli

Professor von Mucker
Edward Mout

Baronin Grünwiesel
Julie-Marie Sundal

Frau von Hufnagel
Josy Santos

Frau Oberjustizrat Hasentreffer
Carmen Fuggiss

Luise
Rebecca Davis

Ida
Julia Sitkovetsky

Ein Kammermädchen
Ula Drescher

Wilhelm
Simon Bode

Amintore La Rocca
Uwe Gottswinter

Ein Lichtputzer
Gihoon Kim

1. Junger Herr
Martin Rainer Leipoldt

2. Junger Herr
Thomas Kubitza

3. Junger Herr
Sebastian Franz



Weitere Informationen
erhalten Sie von der
Staatsoper Hannover
(Homepage)




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