Nah am Wasser sogar noch erotischer

Kultur / 19.07.2017 • 22:21 Uhr / 7 Minuten Lesezeit
In Bregenz erfährt Carmen ein ortsspezifisches Ende. Wobei die Regie den Effekt nicht verschenkt. Fotos: VN/Steurer
In Bregenz erfährt Carmen ein ortsspezifisches Ende. Wobei die Regie den Effekt nicht verschenkt. Fotos: VN/Steurer

Fulminante Pop-Kultur und tiefe Tragik: Die neue „Carmen“ vereint beides.

Bregenz. Am Anfang war die Bühne. Bei den Bregenzer Festspielen bzw. beim Spiel auf dem See ist das so etwas wie ein ehernes Gesetz. Vorhang gibt es keinen. Auch vor jenem Premierenpublikum, das am gestrigen Abend unter höchst dramatischen Wetterkapriolen zum ersten Mal an den See kam – und den Aufbau des Podiums nicht beobachtet hatte –, muss sich diese über 20 Meter aus dem Wasser herausragende Skulptur sofort erschließen. Jene Karten, die Carmen nichts Gutes verheißen, werden weggeworfen, auch nicht vom Schicksal will sich die junge Frau vereinnahmen lassen. Eine der berühmtesten Opernfiguren psychologisch auszuleuchten wie in einem intimen Kammerspiel, das kann auch in diesem riesigen Raum gelingen. Und darauf zielt der dänische Regisseur Kasper Holten ab, wenn er bei seinem Bregenz-Debüt von „Psychologie wird Raum“ spricht und diese Formel auf der Bühne von Es Devlin auch umsetzt.

Was das Zeug hält

Bis die Idee der britischen Ausstatterin, die für Popstars ebenso arbeitet wie für Sport­events oder Opernhäuser wie das Theater an der Wien, zum Tragen kommt, vergehen einige Szenen. Auch bei der berühmten Habanera bleiben die meisten dieser Karten leer, die später Orte verdeutlichen, Szenen überhöhen oder Spielkarten sind. Erlaubt sei nun ein Rückblick in die Festspielgeschichte. Nach einer eher konventionellen „Carmen“-Inszenierung in den 1970er-Jahren, in einer Festspiel-Ära, in der von spektakulärer Verwandlungstechnik noch keine Rede sein konnte, entfachte Jérôme Savary mit Michel Lebois in den frühen 1990er-Jahren ein Hollywood-Spektakel mit Abdrucken von echten Felsen und einer Stierkampf-Arena, wie man sie beim Festakt am gestrigen Vormittag ins Festspielhaus projizierte. Das wirkte fast wie ein schlechter Witz, denn draußen wird fokussiert und überhöht, was das Zeug hält.

Dass sich Es Devlin vor Poppigem nicht scheut, war anzunehmen. Zwei Hände ragen aus dem See – nicht vorstellen will man sich, wie groß denn die Frau sein würde, die da ihre Karten wegschleudert –, eine Zigarette glimmt in der einen, blumig tätowierten Hand, ein Ring ziert die andere. Aber auch eine feine Narbe ist da. Hyperrealismus ist den Festspielen nicht fern. Man darf genau hinsehen. Video-Mapping ist die Technik, die immer mehr möglich macht und auch auf dem See, über und unter dem Wasser und vor dem Wolken- oder Sternenhimmel so exakte Bilder schafft, dass man meint, die Karten würden sich bewegen, wo sie doch – mit einer kleinen Ausnahme auf einer zentralen Drehbühne – so starr stehen wie nur wenige  Bühnenelemente in den letzten zwei Jahrzehnten der Festspielgeschichte.

Eine Grenze

Das ist alles nachvollziehbar, gibt Sinn, unterstreicht die Handlung und markiert dennoch eine Grenze. So wie David Pountney mit Johan Engels bei seiner „Zauberflöte“ in den Jahren 2013 und 2014 nicht nur Choristen, sondern auch einige Sänger von der Seebühne draußen ins Haus scheuchte, weil unter freiem Himmel Puppen tanzen sollten, geraten auch Es Devlin und Kasper Holten an eine Trennlinie, die im Rahmen einer Live-Performance nicht weiter verschoben werden darf. Wenn Projektionen reichen, dann reicht auch irgendwann eine banale Fläche, die dank weiterentwickelter Technik Dreidimensionalität vortäuscht.

Gut, es geht sich alles noch aus, und wenn die Mädchen in Lillas Pastias Bar im Wasser tanzen, deutet Choreografin Signe Fabricius nicht nur das grauenhafte und gewaltvolle Ende von Carmen an, man ist auch an „Hoffmanns Erzählungen“ von 1987 erinnert. Damals watschelte ein Zwergenballett im spritzigen Nass, weil der Bodensee gerade Hochwasser hatte.

Frauen im Wasser oder Frauen im Regen, der sich im zweiten Akt absolut intendiert über die Bühne ergießt, weil sich Holten und Devlin vorgenommen hatten, auch mit der Natur Regie zu führen: Es sind so kluge wie wirkungsvolle Spannungsbögen, die die Inszenierungen auf der Seebühne veredeln. Auch Kasper Holten schafft sie, wenn er in der Kinderchorszene (es ist jener der Mittelschule Bregenz Stadt) Carmen als einsames, sich durchkämpfendes Mädchen auftreten lässt und damit Antworten auf die zentrale Frage anbietet, die da lautet, wie die für ihre Freiheitsliebe geschätzte Carmen derart verbohrt sein kann, dass sie nicht nachgibt, wenn ein Mann sie wirklich liebt. Und auch von Don José erfahren wir Zerrissenheit, zum Mörder macht ihn schließlich jenes erbärmliche männliche Besitzergreifen, das knapp 150 Jahre nach der Uraufführung von Bizets Oper „Carmen“ immer noch zu Katastrophen führt.

Grausam ertränkt

Dass Carmen im See ertränkt wird, sei nicht nur wegen des ortsspezifischen Effektes erwähnt, sondern weil Holten die eingeschränkte Beweglichkeit der Protagonisten durch das Waten im Wasser so gut versinnbildlicht. Micaela (die souverän agierende Elena Tsallagova) lässt er dafür angstvoll hoch oben auftreten, und wenn Gaëlle Arquez der Carmen nicht nur ihre schön timbrierte Stimme, sondern neben viel Erotik auch Wahrhaftigkeit verleiht, ist jegliche Vergrößerung durch filmische Live-Projektionen eine Wucht. Mit Daniel Johannsson wurde ein exzellenter José engagiert, Scott Hendricks (Escamillo) hat nicht nur Seebühnenerfahrung, er passt im Ausdruck absolut ins Bild, das auch dafür steht, wie poppig eine Seebühnenoper sein kann, ohne dass sie in den Kitsch kippt. Die Wiener Symponiker unter Paolo Carignani und die Chöre haben entsprechenden Anteil an einer Dichte, die über Klangfarben und korrespondierendem Licht zum Ausdruck kommt und „Carmen“ an einem regnerischen Abend auf dem See prächtig starten ließ.

Die französische Mezzospranistin Gaëlle Arquez bringt Wahrhaftigkeit in ihre Interpretation der Carmen.
Die französische Mezzospranistin Gaëlle Arquez bringt Wahrhaftigkeit in ihre Interpretation der Carmen.
Regenmäntel waren bei der Premiere von „Carmen“ am gestrigen Abend auf der Seetribüne angesagt. Die Bühne streiften auch ein paar nicht vorgesehene Blitze. Alle Aufführungen sind ausverkauft. Foto: Vn/Paulitsch
Regenmäntel waren bei der Premiere von „Carmen“ am gestrigen Abend auf der Seetribüne angesagt. Die Bühne streiften auch ein paar nicht vorgesehene Blitze. Alle Aufführungen sind ausverkauft. Foto: Vn/Paulitsch

Bis 20. August stehen heuer noch 27 (ausverkaufte) Aufführungen von „Carmen“ auf dem Programm der Bregenzer Festspiele. Die Seebühnenproduktion steht in nächsten Jahr ebenfalls auf dem Spielplan.