Frühling, endlich!

Die Pariser Oper wagt eine Rarität: Nikolai Rimski-Korsakows «La Fille de Neige», inszeniert von Dmitri Tcherniakov. Das Stück bietet dem Sängerensemble viel Raum für eine vergnügliche Interpretation.

Tobias Gerber, Paris
Drucken
Aida Garifullina in der Titelrolle von Nikolai Rimski-Korsakows Oper «Snegurotschka». (Bild: Elisa Haberer / Opéra National de Paris)

Aida Garifullina in der Titelrolle von Nikolai Rimski-Korsakows Oper «Snegurotschka». (Bild: Elisa Haberer / Opéra National de Paris)

Im Reich des Zaren ist der Kreislauf der Jahreszeiten auf Eis gelegt. Jarilo, der sagenhafte Sonnengott, zürnt. Er weigert sich, das Land mit einem frühlingshaften Sonnenstrahl zu erwärmen. Doch wo Wald und Flur noch der Erweckung harren, da machen sich im Volk Frühlingsgefühle breit und sorgen umso mehr für jene Launenhaftigkeit, die der stillgelegten Natur genommen wurde. So geraten die Verhältnisse in Nikolai Rimski-Korsakows Oper «La Fille de Neige» («Snegurotschka») alsbald gründlich durcheinander.

Schneeflöckchen, die Titelfigur, weiss zwar nicht, wie sich Liebe anfühlt, ihre Schönheit aber vermag in der Welt der Menschen durchaus Köpfe zu verdrehen – und damit auch den Lauf der Dinge: Mizguir, der reiche Kaufmann, der kurz vor der Heirat mit Kupawa steht, verguckt sich gleich beim ersten Anblick in das unschuldige fremde Wesen. Vergessen sind die Hochzeitspläne, entfacht hingegen ist die Liebe zur Tochter von König Frost und der Frühlingsfee, die ihrerseits nicht lieben darf, weil sie ob aller herzerwärmenden Gefühle sofort dahinschmelzen würde, und zwar im Wortsinne.

Vergnügliche Inszenierung

Die 1882 uraufgeführte Oper in einem Prolog und vier Akten nach dem gleichnamigen Märchen von Alexander Ostrowski folgt, trotz überraschenden, affektbedingten Wendungen, einem klaren Plot: Snegurotschka, die Titelfigur, darf nicht lieben – und sie kann es nicht. Diese doppelte Unmöglichkeit ist der Dreh- und Angelpunkt für das dramatische Gerüst. Psychologie spielt dabei allerdings kaum eine Rolle, auch scharfe Charakterzeichnungen stehen nicht im Zentrum, eher die Poesie des Märchens.

Aus dieser Anlage schafft der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov auf der Bühne der Pariser Opéra Bastille aber eine straffe und höchst vergnügliche Inszenierung, die dem hervorragenden Ensemble der Sängerinnen und Sänger viel Raum lässt. Elena Manistina markiert gleich zu Beginn eine energetische Frühlingsfee und Mutter des Schneeflöckchens. Die Jahre an der Seite von König Frost haben Spuren bei ihr hinterlassen: schlohweiss das toupierte Haar, crèmefarben das ausgetragene Abendkleid; unüberhörbar aber klingt ihr unstillbares Begehren an, und zunehmend durchdringt Manistina mit wärmeren Timbres jene unterkühlte Starre, die sie zu Beginn ihrer Arie mit ebenso kühlem Mezzosopran illustriert.

Auch Martina Serafin entfacht als Kupawa starke Wirkung. Sie fungiert wiederholt als Ankerpunkt für den dramaturgischen Spannungsbogen: mit kräftiger Stimme und Physis betritt sie im ersten Akt die Szenerie und bewegt sich in den folgenden Akten vielschichtig zwischen den Polen von Liebesglück und -verlust. Klanglich harmoniert sie wunderbar mit ihren beiden Liebespartnern – mit dem kräftigen Bariton Mizguirs (Thomas Johannes Mayer) wie mit dem güldenen Countertenor des Hirten Lel (Yuriy Mynenko).

Psychologie spielt dabei
kaum eine Rolle,
eher die Poesie des Märchens.

Die Partitur Rimski-Korsakows ist durchsetzt mit russischen, in Kirchentonarten gehaltenen Volksliedmelodien, besonders in den Partien des Hirten Lel. Dazu kontrastieren ganztönige und chromatische Tonalitäten, die Figuren und Szenen abseits des Irdischen bezeichnen. Unter der Leitung von Mikhail Tatarnikov erfüllt das Orchestre de l'Opéra National de Paris in der transparenten Akustik der Bastille diese unterschiedlichen Tonfälle und musikalischen Charaktere präzise, äusserst wendig und mit frühlingshaftem Elan.

Tcherniakov setzt auf einprägsame Bilder in einem so einfachen wie effektvollen Bühnenbild, das wiederum von ihm entworfen wurde. Wo im Prolog ein Ballettsaal mit entsprechenden Stangen an den Wänden eine gewitzte Umgebung – nicht zuletzt für den quicklebendigen und intonationssicheren Vogelchor – bietet, da ermöglicht in den vier Akten eine Waldszenerie Spiele mit Licht und Schatten, mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit und sorgt gleichzeitig für wirksame atmosphärische Grundierung, etwa für den urwüchsigen Mai-Ritus von Zar Berendeis Volk.

Nicht völlig überzeugend hingegen entwickelt der Regisseur die Beziehung zwischen Schneeflöckchen und ihrem späteren Geliebten: die Liebe der Titelfigur zu dem gewalttätigen und berserkerhaften Mizguir wirkt deplaciert, das Bemühen um eine Prise Beziehungs-Thrill läuft in der undramatischen Einfachheit der Oper ins Leere. Und aller Einfachheit zum Trotz ist das Ende der Geschichte zwiespältig.

Sonne für das Volk

Schneeflöckchen stirbt an ihrer Liebe, für den Zaren und sein Volk aber kehrt endlich der Frühling ein. Die beiden Rollen sind mit Aida Garifullina als Schneeflöckchen und Maxim Paster als Zar grossartig besetzt: Garifullinas feenhafte Gestalt findet eine Entsprechung in ihrer ätherisch schimmernden Stimme. Paster hingegen gestaltet den Zaren Berendei als liebend-besorgten Patriarchen, dessen rund-fülliger Tenor ihn ganz im Diesseits verwurzelt erscheinen lässt. Wenn am Schluss endlich die Sonnenstrahlen in sein erkaltetes Reich dringen, ist das wenigstens für ihn und sein Volk nicht der schlechteste Ausgang.