Lohengrin und der stählerne Elefant

Ein überraschender Exodus des Publikums bei den Salzburger Osterfestspielen offenbart ein Grundproblem solcher Elite-Festivals, die ihre programmatische Erneuerung vernachlässigen.

Christian Wildhagen
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Elsa hoch drei, aber kein Schwanenritter in Sicht: «Lohengrin» von Salvatore Sciarrino mit Sarah Maria Sun an den Osterfestspielen Salzburg. (Bild: Matthias Creutziger / OFS)

Elsa hoch drei, aber kein Schwanenritter in Sicht: «Lohengrin» von Salvatore Sciarrino mit Sarah Maria Sun an den Osterfestspielen Salzburg. (Bild: Matthias Creutziger / OFS)

Bei Minute fünfundsechzig brechen die Dämme. Aus vereinzelten Tropfen ist unterdessen ein anschwellender Strom geworden, der immer mehr Menschen mit sich reisst. Auch die ältere Besucherin auf dem Nebenplatz, die zuvor bereits ein Dutzend Mal demonstrativ auf die Uhr geschaut und immer vernehmlicher mit dem Verschluss ihrer Handtasche geklappert hat, hält jetzt nichts mehr auf ihrem Sitz – fast gewaltsam drängt sie nun, wie befreit, ihre widerspenstige und obendrein peinlich berührte Begleitung im Schlepptau, quer durch die Reihen ins Freie. Was ist geschehen? Ein Skandal? Ein echter «Aufreger» bei den Salzburger Osterfestspielen?

Ja, man darf es so nennen. Freilich ist das Werk, das keine fünf Minuten vor seinem regulären Ende einen solchen Exodus hervorruft, alles andere als ein Skandalstück. Provoziert wird hier allenfalls dadurch, dass vordergründig kaum etwas geschieht auf der Bühne – und dass man die Ohren mächtig spitzen muss, um das wenige zu hören, das sich in der Musik im Grenzbereich zwischen Laut, Geräusch und Ton an der Hörschwelle abspielt. Die Osterfestspiele Salzburg, dieses in vieler Hinsicht opulenteste, teuerste und am stärksten dem Repertoire der Vergangenheit verhaftete Festival Europas, haben sich nämlich der Moderne verschrieben.

Ein anderer «Lohengrin»

Natürlich nicht im Allerheiligsten, im Grossen Festspielhaus, wo einst ihr Gründer Herbert von Karajan nahezu gottgleich agierte; aber immerhin direkt gegenüber, in der vor allem von den Sommerfestspielen gewinnbringend als Spielstätte genutzten Universitätsaula, wo vor genau 250 Jahren der damals elf Jahre alte Mozart sein Lehrstück «Apollo et Hyacinthus» zur Uraufführung gebracht hat. Heute gibt man hier «Lohengrin», allerdings nicht den von Wagner, sondern die gleichnamige «Azione invisibile» des grossen italienischen Komponisten Salvatore Sciarrino, der kürzlich seinen 70. Geburtstag beging.

Womöglich waren die durch den Titel geweckten Erwartungen Teil des Problems, denn Sciarrinos vielerorts nachgespieltes Werk von 1982/84, eines der wenigen echten Erfolgsstücke des zeitgenössischen Musiktheaters, ist eine raffinierte Meta-Oper, die sich zwar unverkennbar aus Motiven des romantischen Liebes- und Entsagungsdramas um Elsa und ihren Schwanenritter speist, die den Zuschauern aber durch ihre assoziative (Nicht-)Handlung einiges an Hör- und Denkarbeit abverlangt.

Die extrem verknappte Textvorlage des Symbolisten Jules Laforgue erweist sich als klinische Fallstudie einer traumatisierten Frau, die von ihrem Bräutigam just in der Brautnacht sitzengelassen wurde. Seitdem beschwört die Frau, die sich selbst fortwährend «Elsa» ruft, ohne Unterlass die Liebesvereinigung mit ihrem Erlöser herauf. Doch als Lohengrin wider Erwarten tatsächlich erscheint, nur ganz anders als erträumt, nämlich in der stummen Gestalt eines Kindes, ist sie so überfordert, dass sie den Knaben kurzerhand mit ihrem Schwanenfederkissen erstickt.

Harter Tobak, keine Frage. Aber eine Zumutung, die es anzunehmen lohnt, zumal die musikalische Umsetzung durch die Sopranistin Sarah Maria Sun und das Österreichische Ensemble für neue Musik unter Peter Tilling in jeder Hinsicht festspielwürdig ist. Auch die Inszenierung von Michael Sturminger, der bei den Sommerfestspielen den «Jedermann» neu inszenieren wird, dient im atmosphärischen Bühnenbild von Renate Martin und Andreas Donhauser auf intelligente Weise dem Werk, ohne es mit Deutung zu überfrachten. Was also ist da so gründlich schiefgelaufen, dass es Musikinteressierte, von denen viele noch am Vorabend die Retro-Inszenierung von Wagners «Walküre» frenetisch bejubelt haben, nun in Scharen aus dem Saal treibt?

Auf dem Max-Reinhardt-Platz, dem Open-Air-Salon im Festspielbezirk, wo zu Festival-Hochzeiten immer die allerschönsten Gerüchte blühen, macht später die Behauptung die Runde, es habe sich bei den Saalflüchtigen wohl um Teilnehmer der bei Salzburg-Touristen notorisch beliebten Besichtigungstour auf den Spuren des Musical-Evergreens «The Sound of Music» gehandelt. Doch alle Ranküne ändert nichts an der Tatsache, dass das Problem weniger aufseiten der Menschen liegt, die ihr Unverständnis durch Verweigerung zum Ausdruck bringen, als vielmehr bei den Osterfestspielen selbst.

Feier des Immergleichen

Die von Peter Ruzicka, dem geschäftsführenden Intendanten seit 2015, zu Recht geförderte Schiene der zeitgenössischen Oper ist im Rahmen der derzeitigen Programmpolitik nämlich nicht viel mehr als ein Feigenblatt. Und dass selbst diese zaghafte Erweiterung des Repertoires bei Teilen des klassischen Osterfestspielpublikums auf so offenkundigen Widerstand stösst, ist auch damit zu erklären, dass sie dramaturgisch in keiner Weise überzeugend mit dem übrigen Spielplan verknüpft ist und dass nahezu alle notwendigen inhaltlichen Vermittlungsangebote fehlen.

So ist der Widerstand gegen das Neue auch eine Begleiterscheinung, wenn nicht gar die direkte Folge des schmalen Werkkanons der Osterfestspiele, die auf der Bühne im Grossen Festspielhaus seit Jahren ausschliesslich Etabliertes, vorzugsweise aus dem 19. Jahrhundert, zeigen. Im vergangenen Jahr war es ein in Opulenz regelrecht ertrinkender «Otello», im kommenden wird es – als gelte es, der Festival-Konkurrenz in Baden-Baden nachzueifern – eine «Tosca» sein. Man sei zu dieser Feier des Immergleichen gezwungen, heisst es, weil sich die Osterfestspiele selbst finanzieren müssten, und die daraus resultierenden Kartenpreise von bis zu 500 Euro zahle nun einmal kaum jemand für ein Werk der Moderne oder gar der Gegenwart.

Das klingt einleuchtend – aber auch erschütternd mutlos. Umso mehr, als Markus Hinterhäuser, der neue Intendant der Salzburger Sommerfestspiele, gerade die gegenteilige Erfahrung macht: Für seine erste Saison hat er gleich für drei der fünf szenischen Neuproduktionen anspruchsvolle Opernwerke aus dem 20. Jahrhundert ausgewählt, und allen Unkenrufen zum Trotz sind eben nicht bloss der «Titus» des Lokalhelden Mozart und Verdis «Aida» mit der Netrebko schon jetzt ausverkauft, sondern auch die Premieren von Bergs «Wozzeck», Schostakowitschs «Lady Macbeth von Mzensk» und Aribert Reimanns «Lear».

Ein Ungetüm der Avantgarde

Kurioserweise entlarven die Osterfestspiele ihre ästhetische Mutlosigkeit selbst in einer aufschlussreichen Ausstellung, die parallel zur diesjährigen Retro-Inszenierung der «Walküre» in der Neuen Residenz zu sehen ist. Inmitten von alten Bühnenbild-Zeichnungen, Originalrequisiten und ebenso in die Jahre gekommenen Probendokumentationen steht hier ein Elefant aus Stahl mit runden Ohren und langem Rüssel.

Das Ungetüm mit der Inventarnummer 48-5 entpuppt sich als Grossbildprojektor der Firma Ludwig Pani – und war in den sechziger Jahren der letzte Schrei in der Bühnentechnik. Gleich mit mehreren dieser Elefanten liess Karajans Bühnenbildner Günther Schneider-Siemssen 1967 seine Licht-Malereien futuristischer Sternenhimmel auf den Rund-Horizont im Festspielhaus projizieren. Und sosehr wir heute über die klobigen Mittel und die teilweise zeitgebundene Anmutung schmunzeln mögen, so begreifen wir doch: Was Karajan und sein Ausstatter schon im Gründungsjahr der Osterfestspiele anstrebten, war kein Opernmuseum, sondern nachgerade Avantgarde. Zumal der Dirigent auch mit seiner bahnbrechenden Entschlackung des Wagner-Klanges (der Christian Thielemann erfreulicherweise immer stärker nacheifert) und der umfassenden medialen Vermarktung seiner Produktionen ein Vorreiter war. Nein, den fortschrittssinnigen Karajan kann man für die Retro-Strömungen unserer Zeit gerade nicht zum Kronzeugen anrufen – er hielt es im Zweifel mehr mit Wagners Forderung: «Schafft Neues, Kinder!»