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Von Torten und Tanten Kritik:"Hänsel und Gretel" im Theater Bremen

Achtung, Spoileralarm: Ein Lebkuchenhäuschen gibt es nicht und das ist gut so. Denn die Inszenierung von Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ am Theater Bremen kommt prima ohne aus.
26.11.2016, 15:48 Uhr
Lesedauer: 4 Min
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Von Iris Hetscher

Achtung, Spoileralarm: Ein Lebkuchenhäuschen gibt es nicht. Aber das ist auch gut so. Denn die Inszenierung von Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ am Theater Bremen kommt prima ohne aus. Eine Kritik.

Achtung, hier kommt ein Spoiler: Ein Lebkuchenhäuschen gibt es nicht. Nachsatz: Das ist auch gut so. Denn die Inszenierung von Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ am Theater Bremen kommt prima ohne aus, obwohl besagtes Häuschen eins der am meisten zitierten ikonischen Bilder zu den Märchen der Brüder Grimm ist.

Doch Regisseur Alexander Riemenschneider hat sich in seiner ersten Arbeit fürs Musiktheater für zwei andere, miteinander verschränkte Bilderwelten entschieden, in denen er die viel gedeutete Geschichte um das Geschwisterpaar, das sich im tiefen, dunklen Wald verliert, ansiedelt. Beide führt er bereits während der Ouvertüre ein: Ein vor dem großen roten Vorhang platziertes Puppentheaterchen fasst die Handlung in ein paar Bildern zusammen. Hänsel (Ulrike Mayer) und Gretel (Marysol Schalit) strecken ihre Zungen gierig in Richtung einer Torte; schwarzbehandschuhte Finger locken mit eindeutiger „Folge-mir“-Geste in unbekannte Gefilde. Ein Vorspiel im Theater auf dem Theater, Thema: gieren, essen, fressen, mampfen, sich etwas einverleiben. Begehren im weitesten Sinne.

Spagat geglückt

Realismus irgendwelcher Art sollte danach niemand erwarten. Einen bierernsten Ansatz übrigens auch nicht, es darf geschmunzelt werden in der knapp zweistündigen Inszenierung. Das ist angesichts mannigfacher Deutungen, die diese Oper schon erfahren hat, beruhigend. Auf die x-Variante des Sujets Missbrauchs wird verzichtet, auch auf splatterhafte Kannibalismusexzesse. Alexander Riemenschneider nimmt den Text und den naiv-humorvollen Esprit von Humperdincks Musik ernst. Und er bekommt den Spagat hin, sowohl Erwachsene als auch Kinder damit zu erfreuen – bei der Premiere am Freitag wurde heftig geklatscht.

Bevor es so richtig fantastisch wird, lässt Riemenschneider vom Hunger erzählen. Die erste Szene spielt im Häuschen des Besenbinder-Ehepaars, in dem Hänsel und Gretel zwar munter umherspringen, vor allem aber davon träumen, sich mal wieder so richtig satt zu essen. Als im Gerangel mit der Mutter (Patricia Andress) ein Topf mit Milch entzweigeht, werden die Geschwister in den Wald zum Erdbeerensammeln geschickt. Kurz darauf kommt der Vater (Loren Lang) nach Hause. Es war ein guter Tag; er hat Speck, Butter, Würste gekauft. Zufriedenheit ist ein voller Magen, was zur Entstehungszeit von Märchen und Oper (Uraufführung: 1893) weniger Metapher denn Realität war.

Von surrealem Schauwert sind die Szenen im Wald, die man auch als Fiebertraum der Geschwister deuten kann: Hier dürfen sie endlich essen, so viel und was sie wollen. Doch hier wohnt auch die Knusperhexe (Nathalie Mittelbach), die ihnen zeigt, dass Schlingen schnell zum Verschlingen führen kann. „Hänsel und Gretel“ kann immer auch als Plädoyer für Disziplin gelesen werden: Wer weiß, wann er aufzuhören hat mit dem Geknusper am Häuschen, begibt sich nicht in (Lebens-)Gefahr. Jan Stepánek hat Riesenpilze und -Erdbeeren entworfen, kitschige Zwischenprospekte und knorrige Bäumchen, um das Spektakel vor farbig angestrahltem Lametta in Szene zu setzen. Emir Medic steckt Irina Dziashko als Sandmännchen/Taumännchen in wahnwitzige Glitzer- und Blink-Blink-Kostüme und verwandelt Nathalie Mittelbach als Knusperhexe in Charlys scharfe Tante aus der Schokoladenfabrik. Das Knusperhäuschen, um das noch nachzutragen, ist das Theaterchen vom Anfang, weil Theater immer eine Verführung zum Süßen wie zum Sauren ist, allerlei Überraschungen, Gefahren und doppelte Böden birgt. Außerdem ist die Hexe eine Meisterin der Maskierung.

Die Bremer Philharmoniker begleiten dieses bildersatte und sehr actionreiche Geschehen auf der Bühne wie üblich tadellos. Daniel Mayr am Pult hat sich dafür entschieden, Humperdincks stark Wagner-epigonale Komposition als satten Sound mit Hang zur Filmmusik anzulegen, was als Konzept aufgeht. Gut herausgespielt ist das „Abendsegen“-Leitmotiv, munter erklingen die vielen Volkslieder wie „Brüderchen, komm tanz mit mir“ oder „Suse, liebe Suse“, die gleichzeitig einen erfrischenden Gegenpol zur spätromantischen Klangfülle bilden.

Marysol Schalit interpretiert ihre Gretel herausragend. Unschuldig singt sie die Kinderlieder, mit großer, strahlender Stimmkraft in den Höhen wie in den tieferen Lagen die Arien, die durchaus einiges an Schwierigkeiten aufweisen. Auch Ulrike Mayer überzeugt mit ihrem dunkel-getönten, klaren Mezzo ohne Abstriche als Hänsel. Beide gemeinsam demonstrieren erneut die Lust des Sängerensembles am Schauspielern; man nimmt ihnen das sich stets neckende wie herzlich einander zugetane Geschwisterpaar von Anfang an ab. Gleiches gilt für Nathalie Mittelbach, die ihre Hexe mit gut austarierter Frivolität ausstattet – auch in den Arien, in denen sie großen Facettenreichtum demonstriert. Patricia Andress kann als Mutter einige Leucht-Akzente setzen, Loren Langs (Vater) Bariton dagegen wirkt mitunter flach, angeknackst und rau.

Die Kardinalfrage bei „Hänsel und Gretel“ ist immer: Wie hältst Du's mit dem Ende? Vorgesehen ist „Wenn die Not am höchsten steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht“. Riemenschneider löst das augenzwinkernd. Freunde des gepflegten Horrorfilms wissen: Das Böse kommt, egal wie tot es scheint, immer noch einmal zurück. Mehr wird hier nicht verraten. Zwei Spoiler in einem Text wären einer zuviel.

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