Abgang mit Luftballon

Erstmals in seiner Karriere wendet sich der Starregisseur Peter Konwitschny Mussorgskys Zarenoper zu. Die markanten Gesten der Inszenierung motivieren das Ensemble zu Spitzenleistungen.

Michael Stallknecht
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Krone, adieu! Bei Peter Konwitschny macht sich der umgetriebene Zar am Ende auf in ein neues Leben. (Bild: Ludwig Olah)

Krone, adieu! Bei Peter Konwitschny macht sich der umgetriebene Zar am Ende auf in ein neues Leben. (Bild: Ludwig Olah)

Ein wenig geht es zu wie bei der Papstwahl: Erst wird vorn der grosse rote Teppich vom Balkon herabgelassen, dann kommt der Zar. Nur dass der Zar eine Puppe ist wie sein gesamter Regierungsapparat und der Balkon die Bühne einer Show fürs Volk.

Buchstäblich als Kasperletheater inszeniert Peter Konwitschny den Staat in Modest Mussorgskys Oper «Boris Godunow». Am Staatstheater Nürnberg hat sich der Altmeister erstmals in seinem langen Regieleben der um das Jahr 1600 spielenden Oper angenommen und sie dabei ins Russland einer vagen Gegenwart verlegt. Das Volk trinkt Wodka und singt eher gelangweilt die auf Spruchbändern vorgegebenen Beifallsformeln herunter. «Man befiehlt uns zu plärren, also plärren wir», wie es in den sprachlich gegenwartsnahen Übertiteln heisst. Schliesslich hat das Volk genügend Unterhaltung durch eine ebenfalls aus Puppen bestehende Rockband, auch wenn diese im Anschluss an ihren Auftritt von Krokodilen gefressen wird. Und der neue Zar tut Gutes, lässt das Gold gleich schubkarrenweise verschütten.

Fünf Bilder später hat der Kapitalismus in Russland Einzug gehalten. Man ergeht sich in goldenen Kostümen aus Shoppingtüten, während eine riesige Hüpfburg in Gestalt eines Einkaufswagens zur Bühne für die offiziellen Auftritte des Zaren wird. Da stört eigentlich nur noch das Kasperle, das in gewohnter Narrenweise die Wahrheit über die dunkle Vergangenheit des Zaren heraussingt. Aber dessen Bodyguards schiessen es rasch über den Haufen.

Der Holzhammer trifft

Es sind Bilder, die fraglos mit dem Holzhammer daherkommen. Aber Konwitschnys Hammer trifft noch immer, vor allem Mussorgskys Stück. In Nürnberg hat man sich für die Urfassung aus dem Jahr 1869 entschieden, deren Aufführung seinerzeit vom St. Petersburger Mariinsky-Theater abgelehnt worden war. Zu sehr fehlte den Zeitgenossen die opernhafte Überhöhung in einer Handlung, die sich lakonisch auf das Machtgerangel in einem moralisch bankrotten Staat konzentriert. In Nürnberg stolpert Boris Godunow in nur zwei pausenlosen Stunden von der Zarenkrönung bis zum Untergang, während Mussorgsky das Stück später zur grossen Oper inklusive Liebesszenen ausweitete.

Der Zar als Aussteiger

Die Ausstattung von Timo Dentler und Okarina Peter beantwortet die eher assoziative Szenenfolge mit aufwendigen Einzelbildern, während Konwitschny den von Mussorgsky angestrebten Realismus zum zynischen Materialismus steigert. Nimmt der Komponist etwa die sich von einer grausamen Welt abwendende Religiosität des Mönches Pimen noch ernst, so wird er bei Konwitschny zum Fundamentalisten. Er ritzt einer Guerillatruppe das Kreuz mit dem Messer in den Rücken, um sie zum militärischen Widerstand gegen den neuen Zaren anzustacheln.

Nur einer spielt in diesem Kasperletheater nicht mit: der, um den sich alle anderen drehen, Boris Godunow. Den Herrscher plagt das Gewissen, weil er auf dem Weg zur Macht einen legitimen Thronfolger im Kindesalter hat ermorden lassen. Bei Mussorgsky leidet er sich an der metaphysischen Schwere der Schuld zu Tode, bei Konwitschny wird er zum Aussteiger. Erst umarmt der Zar das arme Kasperle, dann lässt er sich zivile Kleidung reichen und macht, einen Luftballon in der Hand, den Abgang in den Orchestergraben als freier Mann. Es ist Konwitschnys Utopie, dass Machtpolitik nicht schicksalhaft und ausweglos bleibt. Entsprechend agiert der Zarendarsteller Nicolai Karnolsky in dieser Inszenierung ungewohnt aktiv, bringt seinen markanten Bass offen in Stellung, ohne dabei forcieren zu müssen. Das schwächt die Identifikation des Zuschauers mit dem Herrscher ab – zugunsten einer eisgrau ausgekühlten Politparabel.

Die musikalische Seite trägt dieses Konzept durchaus mit. Der Nürnberger Generalmusikdirektor Marcus Bosch nimmt die Schwere aus der Partitur und verweigert eine allzu russische Melancholie. An ihre Stelle setzt er klare Phrasierungen und genau organisierte Orchesterfarben, die die Staatsphilharmonie Nürnberg in beeindruckenden Soli liefert.

Damit erschafft er eine Klangfarbendramaturgie, die einer packenden Erzählung dient. Bosch nimmt ungewohnt schnelle Tempi, womit er zugleich den häufigen Eindruck widerlegt, Mussorgskys Partitur zerfalle in Einzelmomente. Klar: Mussorgsky denkt das Orchester nicht symphonisch wie andere Komponisten des fortschreitenden 19. Jahrhunderts. Aber die rasch wechselnden Farben fügen sich bei Bosch durchaus zum organischen Fluss, in den er die Sänger immer souverän mit hineinnimmt.

Blendende Gesamtleistung

Das grosse Ensemble dankt es mit einer blendenden Gesamtleistung: Alexey Birkus verfügt über einen balsamisch strömenden Bass für den Mönch Pimen, womit ein anschaulicher Kontrast zu den helleren und erregteren Schattierungen des Boris entsteht. David Yim singt den Fürsten Schuiskij nicht als geifernden Intriganten, sondern mit wirklich schön geführtem Tenor, was seine Erzählung über den Mord am Thronfolger umso schauerlicher wirken lässt. Tilmann Unger besitzt genügend Durchschlagskraft für die in der Urfassung kurze, aber unangenehm liegende Tenorpartie des Grigori. Und Hans Kittelmann singt den Narren in Gestalt des armen wahrheitsliebenden Kasperle als rührende Klage über allen politischen Wahnsinn der Erde.

Chor und Extrachor des Staatstheaters Nürnberg klingen gemeinsam nicht immer homogen, die von der Regie gewollte Haltung eines oberflächlichen und desinteressierten Volks färbt leicht auf den Klang ab. Doch bezeugen die Chöre damit ebenso wie alle Solisten, was ein Markenzeichen von Konwitschnys Produktionen bleibt: dass die Sänger seine Inszenierungen offenkundig gern spielen, ihm auf seinen genau durchdachten Deutungswegen mit vollem Einsatz folgen.