Etwas ist schief in diesem Staat

Der Librettist Thomas Jonigk und der Komponist Anno Schreier haben dem Hamlet-Stoff ein neues Gewand gegeben. Christof Loys Uraufführung in Wien bringt jede Facette des Werks zum Glänzen.

Daniel Ender
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Zugleich feinnervig und stark: Der Dänenprinz, dargestellt von Andrè Schuen. (Bild: Monika Rittershaus)

Zugleich feinnervig und stark: Der Dänenprinz, dargestellt von Andrè Schuen. (Bild: Monika Rittershaus)

Ein langgezogener, anschwellender Ton – dann nochmals derselbe, kurz und gestossen. In mehreren Lagen und mit etlichen Instrumenten wiederholt sich diese schlichte, zugleich dynamische Repetition am Beginn von Anno Schreiers «Hamlet» – ein klingendes Fanal, das die Grundzüge der ganzen Oper in sich vereint. Eine im Prinzip einfache Musiksprache, oft ins Raffinierte gewendet, begrenzt komplex, aber hinreichend wechselhaft und vor allem durch und durch dramatisch, erweist sich als tragfähiges Vehikel für die von Thomas Jonigk kompilierte Geschichte.

Brave Fassade, dunkle Triebe

Zwar soll die vom Intendanten Roland Geyer für sein Theater an der Wien eingefädelte Uraufführung von Schreiers Oper den Start einer Shakespeare-Trilogie mit «Falstaff» von Antonio Salieri und Verdis «Macbeth» bilden. Aber Jonigks Libretto bezieht auch Motive aus den Vorlagen von Saxo Grammaticus sowie François de Belleforest ein und mutet trotz grosser Nähe zu den Quellen wie eine Neudichtung an, die – zumal gegenüber Shakespeare – markante Verschiebungen mit sich bringt. Abgesehen von der Konzentration auf wenige Handlungsstränge und auf nur sechs Dramatis Personae nebst Chor, stehen die Beziehungen Hamlets zu den anderen im Fokus.

Vor allem tritt der ermordete Vater des Protagonisten in den Vordergrund und in beständige Interaktion mit dem Geschehen. Als dieser tote König, der ebenfalls den Namen Hamlet trägt, muss der Countertenor Jochen Kowalski freilich – mit einer einzigen knappen Ausnahme – ausgerechnet auf das Singen verzichten. Stattdessen führt er als sarkastischer, schmallippiger Erzähler durch die Story und lässt doppelbödig menschliche Abgründe – sei es populistische Verlogenheit à la Donald Trump oder blossgestellte Spiessbürgerlichkeit im Stile Loriots – sichtbar werden.

Etwas ist schief in diesem Staat – das zeigt schon die schräge Ebene des Spielfelds, auf dem ausgetragen wird, was der Komponist eine «Familienaufstellung» genannt hat. Während in der Ausstattung von Johannes Leiacker raumgreifende Fronten aus Blümchentapeten die Kulisse des idyllischen Scheins ins von vornherein Unglaubhafte vergrössern, verbirgt sich dahinter eine wuchernde Natur, welche freilich nur sichtbar wird, wenn sich die einzige Türe öffnet. Das Verhältnis zwischen sozialer Fassade und dunklen Trieben zeigt sich demgegenüber bei den Menschen in umgekehrter Weise, wobei sich das Stück selbst und seine Inszenierung durch Christof Loy geradezu als symbiotische Einheit ausnehmen.

Grell und scharf gezeichnet

Nicht einmal bei offiziellen Anlässen, wenn etwa der neue König Claudius eine Rede hält, lässt sich der Schein wahren, zumal Königin Gertrud ihn noch dann unsittlich berührt. Ihre inzestuöse Bindung zu Hamlet junior wird ebenso grell hervorgekehrt wie die Funktion der Sexarbeiterin Ophelia und die Dauergeilheit des Königs. Vokale und szenische Darstellung verschmelzen bei allen Gestalten gerade in ihrer Überspitzung höchst plausibel, wobei Marlis Petersen nicht bloss hinsichtlich der Lage die Spitze markiert: Ihre Durchdringung vokaler Exaltiertheit mit Seelenregungen, ihre stimmliche Mühelosigkeit machen selbst noch diese Gertrud zu einer menschlichen Gestalt. Als ihr Sohn Hamlet agiert Andrè Schuen an der Schwelle zwischen psychotischen Irrungen und Klarsicht und schöpft sängerisch viril aus dem Vollen, während sich hinter dem Poltern des Claudius von Bo Skovhus die Verletzungen eines aggressiven Charakters verbergen und Theresa Kronthaler die jugendliche Ophelia zwischen Sinnlichkeit und Kühle, Unbeschwertheit und Überdruss schwanken lässt.

Loys Meisterschaft zeigt sich auch dort, wo er den Arnold-Schoenberg- Chor zwar als Gruppe führt, aber doch innerhalb dessen individuelle Züge zum Vorschein bringt, ohne sie überzubetonen – jenen Chor, dem moralisierende oder reflektierende Passagen überantwortet sind, die sonst einzelne Personen sprechen, wie etwa Hamlets Monolog «Sein oder nicht sein».

Die Instrumente übernehmen währenddessen die Verdeutlichung von Stimmungen und geben psychologische Anhaltspunkte – eine Aufgabe, die das ORF-Radio-Symphonieorchester Wien unter Michael Boder routiniert und akkurat, doch auch mit Lust an Sinnlichkeit erfüllt. Denn Schreiers Partitur ist über Strecken eine muntere Stilmontage, aus der sich bunte Allusionen an die Musikgeschichte im Allgemeinen und das Opernrepertoire im Besonderen herausschälen lassen.

Vielerlei Einflüsse

Dass der 1979 geborene Aachener Komponist Richard Strauss und Benjamin Britten als Vorbilder nennt, schlägt sich auch akustisch nieder. Tatsächlich fliessen deren Einflüsse mit Versatzstücken aus neuer Musik der 1950er bis 1970er Jahre zusammen, wechseln tonikale Verankerung mit freierer Harmonik und Klangflächen mit parodistischen Walzer-Paraphrasen für den bigotten Pastor von Kurt Streit.

Dies alles ist gediegen und wirkungsvoll gearbeitet, so dass es nicht verwundert, dass am Ende die Tonrepetitionen vom Beginn wiederkehren. «Der Rest ist Schweigen», sagt der tote König. Als ob solche Schlichtheit sonst die Banalität streifen könnte, intoniert Kowalski hier keine Aussage, sondern eine Frage. Dann ist es still.