WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Bühne und Konzert
  4. Singen oder Nichtsingen? Jonigks Hamlet-Oper in Wien

Bühne und Konzert Hamlet-Oper

Singen oder Nichtsingen, das ist hier die Frage

Freier Feuilletonmitarbeiter
Familiendrama vor Blümchentapete: Jochen Kowalski (Der tote Hamlet), Andrè Schuen (Hamlet), Theresa Kronthaler (Ophelia) Familiendrama vor Blümchentapete: Jochen Kowalski (Der tote Hamlet), Andrè Schuen (Hamlet), Theresa Kronthaler (Ophelia)
Familiendrama vor Blümchentapete: Jochen Kowalski (Der tote Hamlet), Andrè Schuen (Hamlet), Theresa Kronthaler (Ophelia)
Quelle: Monika Rittershaus
Unterhaltsame Reise mit mieser Familie: Im Theater an der Wien haben Thomas Jonigk und Anno Schreier zum 400. Todestag mutig Shakespeare variiert: „Hamlet“ wird zur opernhaften Zimmerschlacht.

Das Sein und das Nichts sind von Shakespeare, der Rest ist Jonigk. Vielleicht heute die einzige Möglichkeit, mit einem Stück wie „Hamlet“ auf der Opernbühne umzugehen. Man hat den autistischen Dänenprinzen und seine dysfunktionale Restfamilie zwar schon oftmals zum Klingen gebracht, aber meist waren das nur gestraffte Inhaltsangaben mit tönender Sättigungsbeilage. Ein singender Hamlet, egal ob Tenor oder Bariton oder Mezzosopran, hat bisher nur wenig musikalisches Eigenleben entwickelt.

Hier, im Theater an der Wien aber, in Johannes Leiackers Einheitsbühnenbild aus einer geraden und einer geschwungenen Blümchentapetenwand, einer Tür und einem Sofa auf schrägem Parkettboden, ist Shakespeare nur einer von mehreren Stofflieferanten.

Neue Wendungen der alten Geschichte

Der routinierte Dramatiker und Librettist Thomas Jonigk hat daraus eine in kraftvoll klarer Sprache, als Rückblende ablaufende „Hamlet“-Variation geformt, mit neuen Wendungen und Überspitzungen gegenüber dem berühmten Drama.

Anno Schreier, 37-jähriger Trojahn- und von-Bose-Schüler, der vor allem 2011 mit „Die Stadt der Blinden“ in Alexander Pereiras vorletzter Zürcher Opernhausspielzeit bekannt wurde, hat dazu die Musik komponiert. Die ist bereits von der Instrumentierung her theaterpraktikabel, obwohl sie vielfach Bläser und (überschaubares) Schlagwerk bemüht.

Schreier will packen und berühren, Avantgarde und Abstraktion interessiert ihn nicht. Beim Publikum kommt das hervorragend an, seine gewieft exekutierte vokale Mischung aus Sprechen, Parlando und exaltiert ariosen Passagen bis zum Schrei, untermalt von bisweilen filmmusikalisch stimmungsförderndem Brodeln, treibt die Beziehungen der hier nur vier Personen effektvoll voran.

Dauerpräsenter Geistervater

Dazu kommen als Kommentatoren der dauerpräsente Geistervater, ebenfalls Hamlet geheißen – sarkastisch-zynisch aus dem Jenseits. Und der neu erfundene Pastor, ein komisch-eitler, walzermusikverliebter Würdenträger, der keinen tröstet, aber das legendäre „Sein oder Nichtsein“ als von ihm geschrieben reklamiert.

Gesungen, oder besser ausgestellt wird das im Goldrahmen vom hervorragenden Arnold Schoenberg Chor, madrigalesk wippend, jede Silbe genussreich von der Lippe lassend, in der Buchvorlage blätternd. Die Masse, mal im Rembrandt-Schwarz-Weiß-Barockoutfit, mal in Straßenkleidung, tritt geballt oder hereintröpfelnd als passiv-beobachtender Kommentator auf.

Man kennt das, aber hier bringt die öffentliche Meinung, der als einziger Original-Shakespeare vorbehalten bleibt, einen gern genossenen, ironisch schwebenden Ton in die mit schwerem Beschuldigungsgeschütz auffahrende, allzu traurig-biestige Familienzimmerschlachtplatte.

Ehrgeizige Trilogie

Der aasige Alt-Hamlet und der Pastor, das sind Jochen Kowalski und Kurt Streit, der mit immer noch biegsamem Tenor aufwartet. Was zeigt, wie ernst und erstklassig diese Uraufführungssache genommen wird. Sie ist Teil einer ehrgeizigen Trilogie, die – nach der Zehnjahresfeier des inhaltlich erneuerten Theaters an der Wien – nun den 400. Todestag William Shakespeares beleuchtet, der auch für das Musiktheater immer wieder gern als Lieferant genommen wurde. Nach dem „Hamlet“ folgen „Falstaff“ – nicht von Verdi oder Nicolai, sondern von Salieri – und „Macbeth“.

Anzeige

Hamlet, das ist der charismatisch wohltönende Bariton Andrè Schuen als bezopfter Bilderbuch-angry young man in Jeans und T-Shirt. Der ist schon zu Anfang tot, am Ende wissen wir es: Sein Onkel Claudius hat ihm den Dolch in die Brust gerammt, so wie er auch seinen Bruder Hamlet vergiftet hat. Schuen wird von seiner Mutter Gertrud mehr als nur begehrt, die selbst an ihrem Hochzeitstag mit Claudius für den Sohn die Beine breit macht.

Übertriebene Mutterbindung: Marlis Petersen (Gertrud), Andrè Schuen (Hamlet)
Übertriebene Mutterbindung: Marlis Petersen (Gertrud), Andrè Schuen (Hamlet)
Quelle: Monika Rittershaus

Zur Ablenkung wird ihm die in der Familie bereits bewährte Hure Ophelia zugeführt. Als sie versagt, ja als die beiden sich tatsächlich ineinander verlieben, wird sie ebenfalls von Claudius um die Ecke gebracht, hinter der Tür, wo Grünpflanzen dräuen, aber keinen Ausweg aus der verwandtschaftlichen Hölle weisen.

Biestige Paarduelle

Man kann einander nicht entgehen. Wut, Eifersucht, Begierde, schlechtes Gewissen, alles muss miteinander ausgetragen werden. Der hyperpräsente Bo Skovhus als Claudius und die ihren wunderbar geführten Sopran bisweilen als Waffe einsetzende Marlis Petersen liefern sich grandios biestige Paarduelle, mit dem Sohn/Neffen als schnaubendem Dritten.

Dazwischen verharrt gläsern, gefasst, als Einzige bemitleidenswert Theresa Kronthaler, die mezzomelancholische, gefühlshungrige, aber eben auch sexarbeiterinnenabgebrühte Ophelia.

Fortsetzung folgt

Christof Loy inszeniert diese griffige Stückvorlage seines Gatten mit der gewohnten Mischung aus spannender Personenführung und treffender Psychologisierung. Man hat eine solche ödipale Konstellation schon oft gesehen, aber sie funktioniert neuerlich blendend. Auch weil Michael Boder das ORF Radio-Symphonieorchester Wien so graziös wie machtvoll tönend durch diese Achterbahn der Emotionen jagt.

Anno Schreier hat sie quasi mit Doppelloopings aus Noten gebaut, sorgt aber immer metiersicher dafür, dass keiner abstürzt und alle komfortabel ins Ziel einlaufen. Die zweieinhalbstündige Reise mit dieser miesen Familie hat Spaß gemacht. Und Gertrud ist ja schon wieder schwanger. Fortsetzung folgt also.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema