Dieser Wahnsinn hat Methode

Die 70. Bregenzer Festspiele zelebrieren das Shakespeare-Jahr mit einer besonderen Ausgrabung. Doch kann sich Franco Faccios «Amleto» wieder auf den Opernbühnen etablieren?

Jürg Huber, Bregenz
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Wer wollte da nicht ins Hadern verfallen? Hamlet (Pavel Černoch) mit dem Geist seines Vaters (Gianluca Buratto). (Bild: Karl Forster)

Wer wollte da nicht ins Hadern verfallen? Hamlet (Pavel Černoch) mit dem Geist seines Vaters (Gianluca Buratto).
(Bild: Karl Forster)

Keine Frage: Die Musikgeschichte hat es nicht gut gemeint mit Franco Faccio (1840–1891). «Not to be!» heisst ihr Verdikt unmissverständlich – neben Rossini, Verdi, Puccini und Co. war im 19. Jahrhundert kein Platz mehr für einen weiteren italienischen Opernkomponisten. Dabei hatte Faccio in frühen Jahren alles richtig gemacht und für seine zweite Oper, «Amleto», mit Arrigo Boito den Librettisten der Stunde ins Boot geholt. Doch die Zeit war um 1865 in Italien wohl noch nicht reif für einen derart anspruchsvollen Stoff. Zudem vermasselte ein kranker Tenor in der Titelpartie die entscheidende Mailänder Zweitproduktion sechs Jahre später. Als Reaktion zog sich Faccio vom Komponieren zurück und widmete sich fortan dem Dirigieren. Mit Erfolg, war er doch beinahe zwei Jahrzehnte lang Chef der Mailänder Scala und brachte dort unter anderem Verdis «Otello» zur Uraufführung – wiederum ein Shakespeare-Stoff und, notabene, ebenfalls auf ein Libretto von Arrigo Boito.

Entdeckt und erweckt

Eine Rarität also, dem Shakespeare-Jahr 2016 geschuldet, als Saisoneröffnung der 70. Bregenzer Festspiele, die parallel dazu auf der Seebühne die Wiederaufnahme der «Turandot»-Produktion aus dem vergangenen Jahr zeigen. Ermöglicht wurde dieses Ereignis durch die Vorarbeit von Anthony Barrese: Der italoamerikanische Dirigent hat die Oper wiederentdeckt, eine kritische Ausgabe erstellt und sie 2014 an der Opera Southwest in Albuquerque wiedererweckt. Nun hat sie die Bregenzer Intendantin Elisabeth Sobotka, die schon 1990 ihre Wiener Abschlussarbeit über Faccio verfasste, nach Europa zurückgeholt, und der erste Eindruck bestätigt: Die Reise hat sich gelohnt.

Der dreistündige Abend im Festspielhaus hat kaum Längen, Faccios farbige Musik braucht den Vergleich mit Verdi nicht zu scheuen und nimmt gleich mit den ersten Akkorden für sich ein. Die Wiener Symphoniker legen sich unter dem geschmeidigen Dirigat von Paolo Carignani mächtig ins Zeug für die musikalische Genremalerei, für die Naturstimmungen und Abschattierungen, die Doppelbödigkeiten der Partitur. Zusammen mit dem Prager Philharmonischen Chor gelingen prächtige Steigerungen; in den solistischen Partien wird überdies die enge Verzahnung von Wort und Musik spürbar.

Der Regisseur Olivier Tambosi tut deshalb gut daran, die von Boito gestraffte Geschichte so gradlinig wie möglich zu erzählen. Die karge Bühne von Frank Philipp Schlössmann erlaubt die Konzentration auf die Personenführung, die von Davy Cunninghams raffinierter Lichtregie unterstützt wird. In der Choreografie von Ran Arthur Braun werden so schon in der ersten Szene zwei Gemütszustände parallel geschildert: auf der einen Seite der jubelnde Hofstaat mit dem neuvermählten Königspaar, auf der anderen der misstrauische Hamlet mit seinen Getreuen. Von den historisierenden, jedoch postmodern verfremdeten Kostümen (Gesine Völlm) der Übrigen hebt ihn sein schlichtes Schwarz als Heutiger ab. In dieser reduzierten Ausstattung umso stärker ins Licht gerückt wird der Auftritt des Geistes von Hamlets Vater. Als Schattenriss im gleissenden Gegenlicht imponiert Gianluca Buratto mit seinem gradlinigen Bass, mit dem er die Rache für seine Ermordung anmahnt.

Und die Frage aller Fragen? Während Shakespeare die an den berühmten Monolog über Sein und Nichtsein anschliessende Begegnung mit Ophelia in der Schwebe hält, macht Boitos Libretto klar, dass der Wahnsinn nur fingiert ist. Tambosi nimmt dies auf, indem er Hamlet vor einen Schminktisch setzt: alles nur gespielt, aber wie! Pavel Černoch geht in der Titelpartie fulminant auf, setzt seinen facettenreichen Tenor gekonnt ein, um den Weg vom verunsicherten Jüngling zum eiskalten Rächer glaubhaft zurückzulegen.

Seinen Gegenspieler und Brudermörder Claudio, dem das Libretto ebenso eine Entwicklung zugesteht, kann Claudio Sgura weniger überzeugend vermitteln, bleibt sein vibratoreicher Bariton doch eindimensional. Zur zentralen Figur neben Hamlet avanciert so dessen Mutter Gertrude. Zeigt Dshamilja Kaiser zu Beginn eine lebensvolle Frau am Ziel ihrer Wünsche, gewinnt ihr tragender Mezzosopran in der Schlafzimmerszene dramatisches Profil. Wie in ihr allmählich die Einsicht wächst in ihre eigene Schuld – das gerät eindringlich, zumal sich die Szene mit Hamlet und dem Geist ihres Mannes zu einem Bild der Familie verdichtet, das nun für immer verloren ist.

Geeignet für das Repertoire

Und Ophelia? Von ihr bleiben Iulia Maria Dans betörender Sopran und zwei Bilder in Erinnerung. Zunächst im ersten Akt, als sie Hamlet vergeblich in ihren wilden Tanz hineinziehen möchte, und dann natürlich ihre grosse Szene: Um die wahnsinnige Trauer um ihren Vater darzustellen, gibt sogar der Ausstatter seinen puristischen Ansatz auf und übersät die Bühne mit wildem Grün, was den Monolog der elfenhaft entrückten Ophelia gar ästhetisch wirken lässt. Auch das anschliessende Begräbnis schrammt bei Kerzenlicht nah am Kitsch vorbei, trägt doch Faccios seufzerreicher Trauermarsch schon hinlänglich zur Rührung bei.

Eine letzte Frage bleibt. Kann sich «Amleto» wieder im Opernbetrieb etablieren, hat sich der Aufwand für die Repertoireerweiterung gelohnt? Am Bregenzer Hamlet-Interpreten jedenfalls könnte es diesmal nicht liegen, wenn die Aufführung wiederum eine Eintagsfliege bliebe und die Oper nicht Tritt zu fassen vermöchte. Denn der befindet sich im Gegensatz zu seinem Mailänder Vorgänger in Hochform.