Ein Regenbogen entfällt ihrer Hand

Die Wiener Festwochen zeigen Ludwig van Beethovens einzige Oper «Fidelio» in einer symbolgeladenen Bebilderung von Achim Freyer. Für Bewegung sorgt dabei vornehmlich der Dirigent Marc Minkowski.

Michael Stallknecht, Wien
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Wo dein sanfter Flügel weilt: Wenn es um grosse Themen geht wie Liebe und Freiheit, legen die Figuren in Achim Freyers «Fidelio»-Deutung die Masken ab. (Bild: Monika Rittershaus)

Wo dein sanfter Flügel weilt: Wenn es um grosse Themen geht wie Liebe und Freiheit, legen die Figuren in Achim Freyers «Fidelio»-Deutung die Masken ab. (Bild: Monika Rittershaus)

Unbarmherzig schlägt die Pauke in die Ouvertüre ein. Marc Minkowski steht am Pult des Theaters an der Wien und leitet Ludwig van Beethovens «Fidelio» an ebenjenem Ort, wo 1805 und 1806 die ersten beiden Fassungen des Werks ihre Uraufführung erlebten. Vielleicht färbt der Genius Loci dabei auf die Klangästhetik ab, denn die vor gut dreissig Jahren von Minkowski gegründeten Musiciens du Louvre liefern auf ihren historischen Instrumenten das Gegenteil eines romantisch verbrämten Mischklangs. So ist in Beethovens einziger Oper die Welt nicht nur dem Schauplatz nach ein Gefängnis, sie klingt hier auch so: spröde, düster, von dunklen Bässen durchzogen. Wenn da nicht die Lichtblicke einer Hoffnung wären, die sich am Schluss in der Befreiung der Gefangenen einlöst. Die meisten Inszenierungen der vergangenen Jahre haben diese Befreiung zur Chimäre erklärt, zum Fiebertraum des gefangenen Florestan und seiner treu liebenden Leonore oder als bloss noch konzertant darzubietenden Finaltaumel. Nicht so jetzt Achim Freyer bei den Wiener Festwochen.

Ein Freiheitsoratorium?

Zumindest ein wenig hellt sich der Himmel am Schluss hinter dem bühnenhohen Metallgerüst auf, das die Bühne des Theaters an der Wien vierstöckig ausfüllt. In ihm hat der Regisseur sämtlichen Rollen einen festen Platz hinter Drehtüren verordnet, der sie zum Auftritt befördert wie die Figuren einer gigantischen Spieldose. Eigentlich hätte ja der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov diesen «Fidelio» realisieren sollen. Es wäre wahrscheinlich eine stärker politisch gefärbte Deutung geworden, die sich gut in den humanistischen Impetus des diesjährigen Festwochen-Programms gefügt hätte. Vor gut zwei Monaten aber gaben die Wiener Festwochen die Trennung bekannt: Tcherniakov habe die Bühnen- und Kostümentwürfe nicht rechtzeitig geliefert.

Als Einspringer gestaltet nun Altmeister Freyer das Stück in einer Commedia-dell'Arte-Ästhetik, die man von ihm kennt. Grell expressionistische Kostümfarben und Gesichtsmasken überhöhen die Figuren zu Archetypen, lassen Marzelline zum grossbrüstigen Jungmädchen werden, das sich in Vorfreude auf die Begegnung mit Fidelio die Stoffbeine glattbügelt, und Rocco zum Kleinbürger, dem die ersehnten prallen Geldsäckel nur so von der Wampe baumeln.

Die Masken fallen nur, wenn die Gefühle besonders authentisch und der Vorschein der Hoffnung zumindest in den Herzen stärker wird, zum Beispiel im Quartett des ersten Aktes. Doch Psychologie ist Freyers Sache ebenso wenig, wie der Begriff der «Deutung» oder gar der «Interpretation» seiner Herangehensweise angemessen wäre. Die Dialoge, die noch am ehesten für zwischenmenschliche Direktheit sorgen könnten, hat er bis auf kleinste Reste eingestrichen. Das erzeugt eine oratorienhafte Starre, die man wahlweise der Inszenierung oder dem Stück anrechnen mag. Beethovens mehrfach umgearbeitete Oper tendiert ja an sich bereits zum Oratorium und zerfällt musikalisch leicht in Einzelnummern. Freyer geht damit offensiv um, indem er das Stück gleich ins undramatische Flachrelief verbannt.

Was bedeutet die Bewegung?

Dafür unterstreicht er den ideellen Gehalt mit projizierten Symbolen, mit Schriftzügen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf einer Gazewand, die das Geschehen auf der Bühne zum Zuschauerraum hin abschliesst. Wenn Leonore ihrem Florestan einen Becher Wasser reicht, dann entfallen die Strahlen eines Regenbogens ihrer Hand. Und gegen den buchstäblich als Satan ausstaffierten Don Pizarro darf ein Leonoren-Double am Schluss als Engel mit dem Flammenschwert antreten, bevor die Szene sich in einen Hieronymus Bosch nachempfundenen Endkampf zwischen bösen und guten Figuren verwandelt.

Für Bewegung aber bleibt doch überwiegend das Dirigat zuständig. Minkowski nämlich wählt unerhört schnelle Tempi, mit denen er das Stück nahezu in Rekordzeit bewältigt. Zumal er auf die umfangreiche dritte «Leonoren-Ouvertüre» verzichtet, die seit Gustav Mahler oft vor dem Schlussbild interpoliert wird. Die Singspiel-Töne des ersten Aufzugs werden im Geschwindigkeitsrausch glatt überfahren. Dafür ist der Dirigent umso stärker, wo er in die Abgründe des Kerkers hineinleuchtet. Da nimmt Minkowski sich plötzlich Zeit für Details, verbindet impulsives und hochexpressives Musizieren mit einer fast kammermusikalischen Transparenz. Christiane Libor als Leonore und Michael König als Florestan bemühen sich denn auch immer wieder, ihren heldisch geprägten Partien weiche Farben abzuringen. Libor klingt dabei klar, sehr fokussiert und in hohem Masse textverständlich, König vermag in der leider oft mehr geschrienen als gesungenen Tenorrolle sein schönes Timbre zu bewahren.

Dass Jewgeni Nikitin als Pizarro auf eine ruppige, oft unsaubere Tongebung verfällt, lässt sich dagegen durchaus als Rollenkonzept deuten. Denn der russische Bariton verbreitet eine dämonische Energie, die Pizarros Erzfeindschaft zu Florestan so glaubwürdig wirken lässt wie selten. Ebenfalls mit leichten Intonationsproblemen zeichnet Franz Hawlata Rocco als Spiesser, der nicht aus seiner unpolitischen Haut kann. Ileana Tonca als Marzelline, Julien Behr als Jaquino und Georg Nigl als Don Fernando runden dieses insgesamt solide, aber nicht überragende Solistenensemble ab. Der Arnold-Schoenberg-Chor vermittelt Beethovens humanistischen Impetus durch seine eindringliche Textausdeutung. Da bleibt dann auch das Jubelfinale zumindest musikalisch für den Augenblick glaubwürdig.