Ein Wagner vor Wagner?

Richard Wagners zweite vollendete Oper ist bis heute eine Rarität auf den Spielplänen geblieben. Warum sich dies alsbald ändern sollte, zeigt die fulminante Premiere des «Liebesverbots» in Strassburg.

Tobias Gerber, Strassburg
Drucken
Die Opéra national du Rhin feiert die französische Erstaufführung des «Liebesverbots». (Bild: Opéra national du Rhin)

Die Opéra national du Rhin feiert die französische Erstaufführung des «Liebesverbots». (Bild: Opéra national du Rhin)

Reumütig klang der Vierzeiler, mit dem Richard Wagner 1866 die Originalpartitur der Oper «Das Liebesverbot» seinem Gönner Ludwig II. von Bayern zu Weihnachten vermachte: «Ich irrte einst, und möcht' es nun verbüssen», heisst es da. Eine Jugendsünde sollte die 1836 in Magdeburg uraufgeführte «Grosse komische Oper in zwei Akten» in Wagners zielgerichteter Konstruktion der eigenen Biografie bleiben: nur Durchgangsstation auf dem Weg zum «Gesamtkunstwerk» des reifen Komponisten, angesiedelt ausserhalb des Kanons der von ihm später als vollgültig akzeptierten zehn Musikdramen.

Im auffälligen Gegensatz zu seiner späteren Missbilligung des französischen und des italienischen Musiktheaters ist Wagner in dem Stück denn auch unüberhörbar beeinflusst von beiden Operntraditionen. Und wie schon die vom damals 23 Jahre jungen Komponisten beachtlich souverän gearbeitete und äusserst gestaltreiche Musik des «Liebesverbots» der germanischen Seele noch keine allzu lauschige Heimat bietet, so bleibt auch die Bilderwelt von Mariame Cléments Strassburger Inszenierung frei von jenen deutschnationalen Stereotypen, die im Gruselkabinett der Wagner-Inszenierungen immer wieder Konjunktur feiern.

Die Tugend der Lederhose

Entsprechend steckt Julia Hansen – verantwortlich für ein so markantes wie anspielungsreiches Kostümbild – den lustfeindlichen deutschen Statthalter Friedrich (Robert Bork) und seine Mannen nicht in strenge Uniformen, sondern in wirtshaustaugliche bayrische Tracht. Sie wird in dem karnevalesken Treiben Palermos, das Friedrich unterbinden will, zum Kostüm-Insigne einer Macht, die auf dem Boden der freien Sinnlichkeit bald in Schieflage gerät. Mariame Clément und ihre Truppe treiben in dem Stück ein fortdauerndes Spiel mit Bedeutungsverschiebungen und Mehrdeutigkeiten. Auch das ebenfalls von Julia Hansen bis ins Detail ausgestaltete Bühnenbild – ein Kaffeehaus, das dem gesamten Stück den szenischen Rahmen gibt – spielt eine Doppelrolle: Im Verlauf der aus Shakespeares «Measure for Measure» adaptierten Geschichte, in der die Novizin Isabella ihren wegen einer ausserehelichen Liebesbeziehung zum Tode verurteilten Bruder Claudio retten will und dabei nicht nur dies schafft, sondern den Statthalter auch des doppelten Verstosses gegen seine eigenen Gesetze überführt, wird der Schauplatz vorübergehend von den feinen und gläsernen Stimmen eines Nonnenchors in einen Klosterhof verwandelt.

Dieser aber, Engelsstimmen hin oder her, bleibt als umfunktionierte Schenke eben doch dem Weltlichen und seinen vielfältigen Lustbarkeiten verhaftet. Und schon die weiss beschürzten Damen – Kellnerinnen wie Klosterfrauen gleichermassen – lassen früh erahnen, dass die keusche Zeit hinter kirchlichen Mauern befristet ist. Und wer vermutet nicht schon da, dass es auch hinter der vorgehaltenen Sittenstrenge des lederbehosten Bayern bald einmal schwelt!

Der Dirigent Constantin Trinks hat das «Liebesverbot» bereits 2013 in der Bayreuther Oberfrankenhalle im Rahmen der Wagner-Festspiele aufgeführt und ist für diese erste Produktion auf französischem Boden ein Glücksfall. Zusammen mit dem Orchestre Philharmonique de Strasbourg treibt er das vitale Geschehen über die Spieldauer von gut zweieinhalb Stunden quicklebendig voran. Doch nicht nur zeigen sich Orchester und Dirigent äusserst agil – auch mit der plastischen Gestaltung und Konturierung wiederkehrender Motive, die vielschichtig miteinander verflochten sind, präsentieren sich die Musiker interpretatorisch ungemein wach und hellsichtig. Die ungebremste Dynamik des Strassburger «Liebesverbots» verdankt sich freilich nicht zuletzt den Chören des Hauses (Leitung: Sandrine Abello), die mit starkem gesanglichem Auftritt und in einer hochpräzisen Choreografie (Mathieu Guilhaumon) wie ein energetischer Katalysator zwischen Musik und Szene agieren.

Auch bei den Solostimmen ist die Produktion erfreulich besetzt. Marion Ammann gestaltet ihre Isabella, der Wagner gegenüber Shakespeare eine autonomere und aktivere Rolle zugesteht, szenisch wie stimmlich facettenreich und findet in Agnieszka Slawinska als Mariana eine Komplizin mit warmem und farbigem Ausdruck.

Der verführte Sittenwächter

Als Gegenpol zur schlauen Isabella vollzieht Friedrich in dem Stück eine sinnbildliche Wende vom verbohrten Repräsentanten deutscher Tugendhaftigkeit zum Liebenden, der, seiner Macht beraubt, zu guter Letzt nicht anders kann, als sich der verschmähten Mariana hinzugeben. Mit seinem volltönenden Bariton verleiht ihm Robert Bork eine imposante Physis und beschenkt ihn schliesslich mit einem sinnlichen Charakterzug. Ob dieser Friedrich am Ende wirklich weiss, wie ihm da gerade geschehen, das lässt Bork mit seiner subtilen Darstellung des verkorksten Moralisten dann aber geschickt offen.

CD-Hinweis: Richard Wagner: «Das Liebesverbot». Michael Nagy (Friedrich), Christiane Libor (Isabella), Peter Bronder (Luzio), Charles Reid (Claudio), Anna Gabler (Mariana), Thorsten Grümbel (Brighella), Anna Ryberg (Dorella), Chor der Oper Frankfurt, Frankfurter Opern- und Museumsorchester, Sebastian Weigle (Leitung). Oehms Classics 942 (3 CD).