Reise vom Garten Eden in die vier Indien
Von Thomas Molke
/
Fotos von Ludwig Olah
Jean-Philippe Rameau zählt zu den bedeutendsten französischen
Komponisten der Aufklärung. Auch wenn - oder gerade weil? - er sich erst relativ
spät mit der Gattung Oper beschäftigte, hat
er einen großen Beitrag zur Entwicklung der Bühnenwerke weg von der höfischen
Tragédie-lyrique eines Jean-Baptiste Lully hin zu einer neuen Gewichtung des
Tanzes geleistet, der nun nicht mehr nur die Funktion eines Divertissements
übernimmt, sondern direkt in die Handlung eingreift. Seine erste Oper
Hippolyte et Aricie aus dem Jahr 1733 war ein absolutes Novum und löste
große Empörung bei den Traditionalisten aus, die am genuin französischen Stil
eines Lully festhielten und die Einführung italienischer Musik wie bei
Marc-Antoine Charpentier oder André Campra ablehnten. Letzterer inspirierte
Rameau zu seinem zwei Jahre später folgenden ersten Ballet-héroïque: Les
Indes galantes. Handelt Campras Oper L'Europe galante noch von der Liebe in verschiedenen europäischen Nationen, gehen Rameau und sein Librettist Louis Fuzelier über Europa hinaus nach Indien. Dass
es hierbei nicht um das tatsächliche Indien geht, sondern mit "den Indien" (Les
Indes) verschiedene exotische Gegenden im Osten und Westen gemeint sind, mag
den heutigen Opernbesucher verwirren. Das damalige Publikum war mit dieser
Bezeichnung vertraut.
Hébé (Michaela Maria Mayer,
oben) mit ihrem Gefolge (Tanzensemble) im Garten Eden
Das Stück beginnt mit einem
Prolog, in dem Hébé, die Göttin der Jugend beklagt, dass die Kriegsgöttin Bellone junge Männer umwirbt, um sie in den Krieg zu führen, was in Wirklichkeit
nur Unglück auf der Erde verbreite. Amour, der Liebesgott, soll ihr helfen, den
Menschen die Augen darüber zu öffnen, indem in vier Geschichten aus fernen
Ländern die Allmacht der Liebe beschrieben wird. Dazu sendet Amour drei
Amoretten aus, um die Geschehnisse einerseits zu beobachten und andererseits
bisweilen auch helfend einzugreifen. Während es nicht weiter überrascht, dass
die Partie des Amour als Hosenrolle mit einem Sopran besetzt ist, wird Bellone
von einem Bass gesungen, um anzudeuten, dass mit der tiefen Stimme auch die
Gefahr in eine heile Welt eindringt. Laura Scozzi hat mit ihrem Regie-Team für
diesen Prolog einen Garten Eden entworfen, in dem das Tanzensemble - inspiriert
von zahlreichen Darstellungen auf Gemälden von Ernst Kranach und Albrecht Dürer
- nackt in kindlicher
Unschuld tobt. Das Ensemble bewegt sich mit einer solchen Natürlichkeit, dass
die Szene nicht anstößig wirkt. Nur Michaela Maria Mayer darf als Göttin Hébé ein
leicht durchsichtiges Kleid tragen. Ob die Äpfel, die die Tänzerinnen während
der Divertissements essen, vom Baum der Erkenntnis sind, bleibt offen. Mit der
Kriegsgöttin Bellone (Florian Spiess) dringt auch die westliche Welt in Form von
Klerikern und Touristen in dieses Paradies ein und hinterlässt eine Müllhalde.
Da muss sich Amour (Csilla Csövari als kecker Lausbube) schon sputen, um die Welt
noch vor dem Untergang zu retten. Mit Cécile Theil-Mourad, Fanny Rouyé und
Laetitia Viallet hat Scozzi drei in der Mimik und Gestik urkomische Amoretten
als stumme Rollen eingeführt, die nun die Reise mit "Eden Airlines" zu den
einzelnen Geschichten antreten. Dass Viallet zunächst nicht ins Flugzeug
gelassen werden soll, da sich in ihrem Koffer die Liebespfeile befinden, ist nur
einer der zahlreichen Gags, die beim Publikum für Lacher sorgen.
Osman (Vikrant Subramanian)
umwirbt Emilie (Hrachuhí Bassénz), doch diese denkt an Valère (im Hintergrund:
die Amoretten (von links: Fanny Rouyé, Laetitia Viallet und Cécile Theil-Mourad)).
Bei den folgenden Geschichten ist es Scozzi daran gelegen, einen aktuellen
politischen Bezug zu dem jeweiligen Land zu ziehen. Den Anfang macht die Türkei:
Le Turc généreux. Dabei dürfte einem der "großzügige Türke" Osman, der
sich in die Europäerin Emilie verliebt hat, die von Piraten verschleppt und in
seinen Harem gebracht worden ist, aus Mozarts Die Entführung aus dem Serail
äußerst bekannt vorkommen. Bei Rameau ist es Emilies Geliebter Valère, der von
einem Unwetter ans Land gespült wird und dort auf seine Geliebte Emilie trifft,
und natürlich zeigt sich auch Osman großzügig und lässt die beiden Liebenden
ziehen. Scozzi spricht in der Geschichte die aktuelle Flüchtlingskrise und die
daraus resultierende Situation in der Türkei an. So stranden zahlreiche
Menschen in der Türkei und bemühen sich, ein Visum für die Einreise in
die EU zu bekommen. Dabei treten die drei Amoretten nicht nur als Bootsführer
auf, um die Boote der Flüchtlinge beim Sturm an den türkischen Strand zu bringen
beziehungsweise später in Richtung Griechenland zu lenken - auch wenn sie
sich dabei nicht so ganz einig sind, in welcher Richtung Griechenland eigentlich
liegt -, sondern sorgen auch erneut wieder für große Komik, wenn beispielsweise Viallet gegen den tosenden Sturm im Meer ankämpft und immer wieder ins Wasser
fällt. Beim Ende der Geschichte nimmt sich Scozzi einige Freiheiten. So erkennt
Emilie nämlich, dass sie Osman wegen seiner Großmütigkeit viel mehr liebt als
Valère.
Huascar (Marcell Bakonyi, Mitte)
bedroht Phani (Michaela Maria Mayer) (rechts: Carlos (Martin Platz)).
Von der Türkei geht dann der Flug auf einer Videoprojektion von Stéphane Broc
nach Peru. In Les Incas au Pérou liebt Phani eine junge Priesterin den
spanischen Eroberer Carlos und will ihr Volk aus der Tyrannei des Huascar
befreien. Doch Huascar, der Phani begehrt, will sie nicht gehen lassen und löst
eine Naturkatastrophe aus, bei der er sich am Ende selbst in die Flammen stürzt. Scozzi deutet den Tyrannen Huascar als Vertreter der maoistischen
Terrororganisation "Sendero Luminoso" (Leuchtender Pfad), dem es nur darum geht,
den internationalen Drogenhandel zu kontrollieren. So muss der Chor als
geknechtetes Volk Koka-Pflanzen anbauen. Marcell Bakonyi legt die Partie des
Huascar mit schwarzem Bass als üblen Verbrecher an, mit dem man eigentlich kein
Mitleid hat, wenn er sich am Ende in die brennenden Felder stürzt. Ob das Volk
von seinem Untergang allerdings tatsächlich profitiert, bleibt fraglich.
Schließlich ist auch Carlos (Martin Platz) kein glaubwürdiger Heilsbringer.
So hat sich Fatime (Hrachuhí
Bassénz, vorne) das Leben mit Tacmas (Martin Platz mit Tänzerinnen) wohl nicht
vorgestellt.
In der dritten Geschichte, Les Fleurs, nimmt Scozzi inhaltlich die wohl
größten Eingriffe vor. Ursprünglich handelt es sich dabei um ein fröhliches
Divertissement in Persien, das erst im Laufe des ersten Aufführungsreihe in das
Stück eingebaut worden ist. Fatime glaubt, dass ihr geliebter Tacmas sie mit der
schönen Atalide betrügt, und hat sich deshalb als Mann verkleidet, um die beiden
auf frischer Tat zu ertappen. Als sie auf Atalide trifft, erkennt diese sie nicht
und beklagt sich bei Fatime, dass der von ihr verehrte Tacmas nur Augen für
Fatime habe. Nun tritt Tacmas auf, erkennt Fatime, und die Geschichte endet in
einem Blumenfest. Dieses Fest nutzt Scozzi nun, um mit der Unterdrückung der
Frau in weiten Teilen der Welt abzurechnen. So werden einige Tänzerinnen
zunächst in weißer Unterwäsche mit hochhackigen Schuhen und blonden Perücken zum
Sex-Symbol ausstaffiert, bevor die Männer sie mit einer Burka bedecken und in
eine untergeordnete Rolle zwingen. Auch Fatime erleidet hier das gleiche
Schicksal, während sich Tacmas mit sechs leicht bekleideten Frauen vergnügt. Für
einen komischen Moment sorgen eigentlich nur die Amoretten, wenn sie zu Beginn
der Geschichte auf ihrem Gebetsteppich in die falsche Richtung beten.
Alvar (Florian Spiess, links),
Damon (Martin Platz, Mitte) und Adario (Vikrant Subramanian, rechts) buhlen um
Zimas (Csilla Csövari) Gunst.
Auch die letzte Geschichte, Les Sauvages, ist erst später in die Oper
eingefügt worden. Von Persien geht es nun nach Nordamerika. Der Indianer Adario
verteidigt mit seinem Volk ein Gebiet, das der Spanier Alvar und der Franzose
Damon in ihren Besitz bringen wollen. Doch die beiden Europäer haben nicht nur
Interesse an dem Land, sondern wollen auch das Herz der schönen Zima gewinnen.
Während Damon mit der Leichtigkeit der Liebe wirbt und Alvar versucht, durch
Beständigkeit bei Zima zu punkten, weist Zima beide ab und entscheidet sich in
einem rührenden Schlussduett für Adario. Bühnenbildnerin Natacha Le Guen de
Kerneizon hat große Baumstämme auf die Bühne gestellt, deren Abholzung die
Einwohner hier zu verhindern versuchen. Davor werden dann Werbeplakate aus
Möbelhäusern aus dem Schnürboden herabgelassen, mit denen Alvar und Damon die Gunst Zimas gewinnen wollen.
Damon wirbt natürlich mit einem Schlafzimmer,
da seine Gefühle rein sexueller Art sind, während Alvar sich in einer
Einbauküche eher ein Heimchen
am Herd wünscht. Mit bitterer Komik wird dann am Schluss der Wohlstandstraum
geträumt, der von trautem Heim mit Fernseher über genmanipuliertes Essen mit
riesigem Braten führt.
Von dort geht es dann wieder mit dem Flugzeug zurück in den Garten Eden. Die
Liebe scheint letztendlich doch gesiegt zu haben, was ein altes Pärchen
suggeriert, das in trauter Zweisamkeit - natürlich nackt - durch den Garten
schlendert. Und auch für den Nachwuchs ist gesorgt. So sieht man eine Schwangere mit
einem Apfel über die Wiesen streifen. Volker Hiemeyer führt die
Staatsphilharmonie Nürnberg mit sicherer Hand durch die vielschichtige Partitur,
auch wenn er an einigen Stellen mit etwas zu lautem Klang die Solisten
überdeckt. Hrachuhí Bassénz lässt sich zwar noch als leicht indisponiert
ansagen, meistert die Partien der Emilie und der Fatime aber mit rundem Sopran und
gewohnt klaren Höhen. Michaela Maria Mayer begeistert darstellerisch als Hébé mit
jugendlicher Leichtigkeit und punktet stimmlich mit frischem Sopran und sauberen
Höhen. Als Atalide zeigt sie sich auch von ihrer komischen Seite, während sie
als Priesterin Phani ernstere Töne anschlägt. Martin Platz verfügt über einen
leichten Spieltenor, der für die Partien des Valère und Carlos noch ein bisschen ausbaufähig
ist. Als Damon begeistert er mit großartiger Komik und mimt in Les Fleurs einen glaubhaft
schmierigen und unsympathischen Tacmas. Csilla Csövari überzeugt als Amour
und als Zima mit lieblichen Höhen. Florian Spiess verleiht der Kriegsgöttin
Bellone und dem Spanier Alvar mit profundem Bass beeindruckende Autorität, und
auch Vikrant Subramanian überzeugt als Adario und Osman mit soliden Tiefen.
Stars des Abends sind allerdings die drei Amoretten Cécile Theil-Mourad, Fanny
Rouyé und Laetitia Viallet mit ihrem herzerfrischenden Spiel. So gibt es für
alle Beteiligten großen Applaus.
FAZIT
Laura Scozzis Inszenierung zeigt, dass Jean-Philippe Rameaus Opernschaffen zu
Unrecht in Deutschland vernachlässigt wird. Von diesem Komponisten möchte man
gerne mehr hören. Im Falle von Les Indes galantes hat man dazu auch die
Gelegenheit, da das Stück auch bei den diesjährigen Münchner Opernfestspielen
neu inszeniert wird.
Ihre Meinung
Schreiben Sie uns einen Leserbrief
(Veröffentlichung vorbehalten)
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Volker Hiemeyer
Inszenierung und Choreographie
Laura Scozzi
Bühne
Natacha Le Guen de Kerneizon
Kostüme
Jean-Jacques Delmotte Licht
Karl Wiedemann Video
Stéphane Broc Chor
Tarmo Vaask
Dramaturgie
Kai Weßler
Chor und Statisterie
des
Staatstheater
Nürnberg
Staatsphilharmonie Nürnberg
Cembalo
Martina Fiedler Violoncello
Arita Kwon
Solisten
Hébé, Göttin der Jugend
Michaela Maria Mayer
Bellone, Göttin des Krieges
Florian Spiess
Amour, Gott
der Liebe
Csilla Csövari
Emilie
Hrachuhí Bassénz
Osman
Vikrant Subramanian
Valère
Martin Platz
Phani
Michaela Maria Mayer
Carlos
Martin Platz
Huascar
Marcell Bakonyi
Tacmas
Martin Platz
Atalide
Michaela Maria Mayer
Fatime
Hrachuhí Bassénz
Roxane
Csilla Csövari
Alvar
Florian Spiess
Zima
Csilla Csövari
Adario
Vikrant Subramanian
Damon
Martin Platz
Drei Amoretten
Cécile Theil-Mourad
Fanny Rouyé
Laetitia Viallet
Tanzensemble
Carole Bordes
Salomè Curco
Charlie-Anastasia Merlet
Maud Payen
Muriel Trupin
Angela Vanoni
Victor Duclos
Mathieu Hautot
Olivier Sferlazza
Nicola Vacca
Rodolphe Viaud
Weitere
Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater Nürnberg
(Homepage)
|