Neben Bambi, Pippi Langstrumpf und Casablanca wurde der Welt im düsteren Jahr 1942 auch ein Konversationsstück für Musik in einem Aufzug geschenkt: Capriccio von Richard Strauss. Von den genannten Werken ist letzteres zweifellos das am wenigsten populäre, denn zweieinhalb Stunden philosophischer Diskurs über das Primat von Wort oder Musik in der Oper, ein wenig aufgepeppt durch Schwänke aus dem Bühnengeschäft, kommen auch geprüften Opernbesucher/innen mitunter länger vor als eine schwach besetzte Götterdämmerung.

Womit wir bei dem Wort „Bühnengeschäft“ wären: Richard Strauss wollte mit seiner Musik Geld verdienen, und für ihn zu seiner Zeit bedeutete dies „Ausrichtung seiner ästhetischen Produktion an den Bedürfnissen eines politisch konservativ bis reaktionären, aber zahlungskräftigen Publikums“ (Udo Bermbach im Programmheft zu dieser Neuinszenierung). Im Fall von Capriccio, mitten im zweiten Weltkrieg, hieß das Schokoladeschlürfen in einem französischen Rokokoschloss um das Jahr 1775.

Man könnte nun lange darüber diskutieren, wer heute Opernpublikum ist und womit Strauss heute seine finanziellen Ambitionen zu realisieren versuchen würde; noch länger über die Rolle der Kunst in der Gesellschaft, politische Verantwortung von Künstlern, und über Inszenierungen und Werktreue sowieso. Aber die Sicht modern denkender Menschen wird kein Blick zurück sein.

Regisseurin Tatjana Gürbaca hat daher für jene, die sich nach dem Kakanien der historischen Aufführungspraxis sehnen, starken Tobak parat, wenn sie Capriccio auf „das Schlachtfeld der Geschichte“ versetzt, und ihre Synopsis wie folgt einleitet: „Bilder aus vergangenen Zeiten tauchen auf, Geister Verstorbener kehren zurück. Während die Gräfin die Toten betrauert, inspiziert ihr Bruder die Leichen. Erinnerungen überlagern sich.“ Mit anfangs „toten“ Protagonisten, die nach und nach zum Leben erwachen, zeigt sie Strauss‘ rückwärtsgerichtetes, selbstreferentielles Werk als sinnlose Suche nach einer vergangenen Zeit, in der viele Fragen offen geblieben sind, welche die Menschheit jedoch noch immer bewegen. Diese tauchen daher wie Gürbacas Darsteller immer wieder aus dem Nebel der Vergangenheit auf, womit sich der Kreis zu den angesprochenen ewigen Diskussionen um ewige Fragen schließt.

Das Personal in diesem Capriccio ist folglich „untot“, teilweise verwundet und gealtert, und dennoch wird diese Inszenierung nie zum lächerlichen Zombie-Ball, sondern betont die Wehmut und den von Strauss in seiner letzten Oper musikalisch zelebrierten Abschiedsgedanken. Dies gelingt auch dank der edlen Kostüme von Barbara Drosihn (Rokoko für die drei Musiker, Soldatenuniformen verschiedener Epochen, ein fantasievolles, historisch inspiriertes Kleid in Grau für die Gräfin). Das Bühnenbild (Henrik Ahr) besteht, von oben nach unten betrachtet, aus einer schiefen Ebene, sieben langen und breiten Stufen sowie einem Graben (dem im Libretto nur angesprochenen Abgrund) davor. Neben zwei verstaubten Cembalos im oberen Teil der Bühne sowie einem weiteren, funktionstüchtigen Cembalo auf einer der Stufen enthält es Kriegsmaterial, mit dem zum Text passend hantiert wird (die Konversation ist schließlich eine Kontroverse) sowie einen Begräbniskranz, dessen Schleife mit der Aufschrift „ewig / unvergessen“ die Gräfin und der Theaterdirektor im Laufe des Stückes tragen.

Spannend ist die Ballett-Einlage, in der die Tänzerin (Agnes Guk) zuerst vom männlichen Bühnenpersonal belästigt wird, nach ihrem Abgang als Stoff-Puppe wiederkehrt und von der Meute (aus falsch verstandener Liebe, aus Gier?) in Stücke gerissen wird. Was genau die Regisseurin damit aussagen will, ist zwar nirgends zu lesen, aber man kann die Szene als Symbol für die Oper nehmen, die von alten Männern „lebendig“ nicht geschätzt wird und daher zur toten Hülle mutiert – an der schlussendlich allerhand Unberufene Leichenfledderei begehen.

Maria Bengtsson war eine ausgezeichnete Gräfin; ihr Sopran ließ an Violinen denken, und wollte man ein Bild dafür finden, könnte es schwere, silbrig glänzende Seide sein. Sie meisterte die konversationstechnischen Finten mit Eleganz und gab der Gräfin, die wie ihr Bruder inszenierungsbedingt fast weißes Haar hat, jugendliche Leidenschaft und gefühlvolle Pianissimi. Als dieser Bruder ist Andrè Schuen ebenso ein Glücksgriff wie es Daniel Behle als Musiker Flamand und Daniel Schmutzhard als Dichter Olivier sind. Alle drei waren an diesem Abend in jeder Tonlage intonationssicher und wortdeutlich und als Schauspieler überzeugend. Das trifft auch auf Lars Woldt zu, der den Theaterdirektor La Roche als – im besten Sinne – polternden Pragmatiker des Bühnengeschäfts anlegte und damit der Überzahl an blutleeren Theoretikern in Capriccio das notwendige Gegengewicht gab.

Tanja Ariane Baumgartner sang ihre Clairon tadellos und zeigte diese als intellektuelle Künstlerin und nicht als die übliche, auf den Begriff „Diva“ reduzierte Schauspielerin. Ebenso überzeugend war der schwarz-humorige Auftritt des italienischen Sängerpaares: Jörg Schneider spielte einen Priester auf dem Weg zu einer Totenmesse, der bald selbst das Zeitliche segnete, und Elena Galitskaya sollte wohl bewusst an die mechanische Puppe Olympia in Hoffmanns Erzählungen erinnern. Auch die kleinen Rollen waren hervorragend besetzt und trugen zum besonderen Erlebnis dieses Abends bei.

Die Wiener Symphoniker boten zusammen mit Dirigent Bertrand de Billy mustergültigen Kopf-Strauss: überwiegend schlank-transparent und schön artikuliert, dann wiederum, zu Clairons Abschied und in der Mondscheinmusik sehnsuchtsvoll verklärt, dabei immer sängerfreundlich. Interessanter war Capriccio noch nie.

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