Theater an der Wien: Wann muss Schönes pausieren? 1945? Heute?

 Maria Bengtsson singt die Madeleine mit jener Verschmelzung aus natürlichem Ausdruck und klarer Stimmführung, die eine prachtvoll schöne, samtweiche Sopranstimme in allen Lagen zur Entfaltung bringt.
Maria Bengtsson singt die Madeleine mit jener Verschmelzung aus natürlichem Ausdruck und klarer Stimmführung, die eine prachtvoll schöne, samtweiche Sopranstimme in allen Lagen zur Entfaltung bringt.(c) APA/HERWIG PRAMMER
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„Capriccio“ am von Richard Strauss wird gut gesungen und fein differenziert musiziert, ist aber auf der Bühne nicht zu sehen. Stattdessen zeigt die Regisseurin des Jahres 2013 einen platten zeitgeschichtlichen Kommentar.

Richard Strauss' letzte Oper ist avisiert, ein „Konversationsstück für Musik“, wie es im Untertitel heißt. Also? Unterhalten wir uns – zunächst vielleicht über die gute Nachricht.

Musikfreunde, solche, die in Wien sozialisiert wurden zumal, legen Wert auf stilistische Differenzierung. Und wie man Richard Strauss am besten singt, darüber hat man in der Strauss-Hochburg ganz besondere Vorstellungen. Diese sind geprägt von den Vorlieben des Komponisten selbst und jenen seiner Siegelbewahrer Clemens Krauss und Karl Böhm. Die Liste der idealtypischen Interpretinnen der Hauptpartie in „Capriccio“ reicht von Viorica Ursuleac über Elisabeth Schwarzkopf und Lisa della Casa bis zu Gundula Janowitz. Und ist, in Wahrheit, nicht viel länger . . .

Seit vergangenem Montag darf man einen Namen hinzufügen: Maria Bengtsson singt die Madeleine mit jener besonderen Verschmelzung aus natürlichem Ausdruck und instrumental klarer Stimmführung, die eine prachtvoll schöne, samtweiche Sopranstimme in allen Lagen, je höher, desto schöner, makellos zur Entfaltung bringt.

Man muss dazu gar nicht so viel vom Text verstehen, um zu verstehen, wovon die sensible junge Dame da jeweils gerade singt. Was Strauss seiner Gräfin in die Gurgel komponiert, steht ein wenig quer zu seinem immer wieder geäußerten Grundgedanken, dass in der Oper jedes Wort deutlich artikuliert werden sollte, wenn die Sänger – und der Dirigent – nur ihr Handwerk verstehen.

Ein spritziger, lebendiger Dialog

Nun, Bertrand de Billy versteht sein Handwerk und hat das Ensemble im Theater an der Wien – jenseits der weit ausschwingenden ariosen Passagen für Frau Gräfin – auf den geforderten Konversationston eingeschworen. Von Madeleines Bruder, dem gelangweilten Grafen des Andrè Schuen, und vom mächtig profunden Theaterdirektor La Roche des Lars Woldt versteht man tatsächlich jedes Wort, ebenso von der rollengerecht imposanten Schauspielerin Clairon der Tanja Ariane Baumgartner; auch die stimmlich nicht ganz so wandlungsfähigen Kontrahenten, Daniel Behle (Flamand) und Daniel Schmutzhard (Olivier), parlieren wortgewandt; und Behle lässt im Forte herrlich strahlende Tenortöne hören.

Die Wiener Symphoniker modellieren die vielen kleinen Details und Pointen, mit denen Strauss den hintergründig-verschmitzten Dialog über Freuden und Unbilden des Musiktheaterlebens akustisch illustriert. De Billy sorgt trotz aller diesbezüglicher Präzisionsarbeit ganz in Straussens Sinn auch für Tempo – das alles sitzt bewundernswert; sogar die acht Diener „servieren“ punktgenau.

Allein, im Theater an der Wien wird über keine einzige der subtilen Anspielungen, Spitzen und Aperçus gelacht. Denn das Stück findet nur auf der musikalischen Ebene statt. Es wird nicht gezeigt.

Es stimmt schon: Richard Strauss hat sich erlaubt, mitten im Zweiten Weltkrieg in einer Art künstlerischen Weltflucht im Verein mit Clemens Krauss ein Stück zu dichten und zu komponieren, in dem die adelige Gesellschaft des Pariser Ancien Régime über nichts anderes diskutiert als über die Frage, ob Wort oder Ton in der Oper der Vorrang gebührt. Zwischendrin sollen sich verwirrende Liebesgeschichten entspinnen und ineinander verwickeln. Aber von der Außenwelt dringt kein Bannstrahl in diese Geistes-Idylle.

Regisseuse Tatjana Gürbaca hat nun nicht dieses Stück inszeniert – was zugegeben gediegene Handwerkskunst erfordert hätte, sondern es sich leicht gemacht und auf einer Riesentreppe (Bühne: Henrik Ahr) ein symbolisches Schlachtfeld eingerichtet, auf dem die Protagonisten als Leichen liegen, um in einer Art Rückblende für kurze Frist noch einmal lebendig zu werden.

Zwischendurch tauchen Kriegsversehrte auf, und die arme Tänzerin (Agnes Guk) wird an ihren Rokoko-Pirouetten gehindert, weil sämtliche Männer auf der Szene ihr nahekommen wollen und sie zuletzt in Stücke reißen, um kannibalische Riten zu vollziehen.
Nicht erst in diesem unappetitlichen Moment versteht wohl der letzte Zuschauer, dass hier bestenfalls ein (reichlich platter) Kommentar zur Zeitgeschichte geliefert werden soll. Das, worum es in „Capriccio“ gehen sollte, wird nicht im Ansatz berührt. Schon die Tatsache, dass in einer zarten Komödie, die von Etikette und verstohlenen Sehnsüchten handelt, denen „niemals Erfüllung“ gewährt wird, Dichter und Komponist die Gräfin fortwährend begrapschen und betasten dürfen, macht jeden Versuch unmöglich, sich in jene poetische Zauberwelt auch nur hineinzuträumen.

Wer aber eine Art szenisches Historiker-Seminar zum Thema „Wann muss das Schöne pausieren?“ besuchen möchte, wird bestens bedient.

Reprisen: 21., 23., 25., 29. April und 2. Mai

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2016)

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