Händel, Rossini und Spezialitäten der Opernliteratur – das sind seit mittlerweile zehn Jahren die drei musikalischen Eckpfeiler des „neuen“ Opernhauses, und nach Genuss der aktuellen Agrippina dürften nicht nur Barockfreunde den bei solchen Anlässen üblichen Gratulationen auch gleich den frommen Wunsch „Unseren jährlichen Händel gib uns auch nächste Saison“ mit anschließen.

Mit Rinaldo gelang Händel der erste große Triumph in London, und demgegenüber tritt die 1709 in Venedig uraufgeführte Agrippina – direkte Vorgängerin des Rinaldo in Händels Opernschaffen und dessen erster durchschlagender Opernerfolg überhaupt, ein wenig in den Schatten. Das ist schade, denn wenn man nach Kenntnis der jüngeren Händel-Opern die Agrippina zum ersten Mal hört, trifft man unter anderem auf liebgewonnene Bekannte wie etwa die Furie terribili aus besagtem Rinaldo, oder zumindest deren musikalische Ahnen.

Da darf man auch staunen, dass dieses Frühwerk mit seinen vielen Rezitativen und kurzen Nummern, die noch nicht das formvollendete Da capo-Schema aufweisen, paradoxerweise moderner als Händel in seiner Hochblüte klingt. Auch die Dramaturgie ist dem modernen Publikum vielleicht gerade dadurch zugänglicher, dass sie näher am Theater und am Entertainment eines Monteverdi denn am Opernpathos des 18. Jahrhunderts liegt. Das ist auch dem hochwertigen Libretto des kunstsinnigen Kardinals Vicenzo Grimani zu verdanken, und man freut sich, dass Regisseur Robert Carsen die großen Chancen des Werkes voll genutzt hat.

In dieser Geschichte von Agrippina, die ihren nichtsnutzigen Sohn Nero/Nerone auf den Thron ihres Mannes bzw. den Thron von dessen Stiefvater Claudius/Claudio hievt, verzichtet Carsen auf Plakatives und Belehrendes; stattdessen zeigt er das Werk als das, was es ist: eine gut erfundene, von historischen Figuren inspirierte Sex & Crime-Komödie mit ernsten Anklängen. Das Dunkle und Politische des Stoffes wird nebenbei serviert und ruft beim Publikum vielleicht gerade dadurch mehr Interesse an der Auseinandersetzung mit Stoff und Stück hervor als ein primär intellektueller Ansatz. Köstlich ist beispielsweise die im Fernsehsender SPQR1 übertragene „Wahlveranstaltung“ des Nerone, der an die Armen bzw. die als Arme auftretenden Schauspieler Geld verteilt.

Neben dem Konzept des Sichtbarmachens aktuellerer italienischer Verhältnisse im antiken Stoff ist vor allem die scharfsinnige Rollencharakterisierung lobenswert. Claudio wird beispielsweise mit Anleihen an Mussolini, aber hauptsächlich als schürzenjagender Medienmogul im Stil eines Berlusconi dargestellt, während sich die Bürosklaven Pallante und Narciso ihrer Herrin Agrippina, die gern mit Lack(handtasche) und Leder(rock) auftritt, bereitwillig am Schreibtisch unterwerfen. Und weil alle Männer dem Klischee nach irgendwie gleich sind, dürfen Bass und Countertenor nacheinander eine praktisch identische Striptease-Choreographie zum Besten geben und Designer-Unterhose zeigen.

Dies führt zur Personenregie, die ebenfalls brillant ist: Wie Nerone und Ottone in Poppeas Schlafzimmer Versteck spielen, um der Entdeckung durch den plötzlich eintretenden Claudio zu entgehen (was dann doch nicht gelingt), ist ein Musterbeispiel dieses Handwerks. Einen weiteren Publikumshit landen Regisseur und Ausstatter damit, die „Vaghe fonti, che mormorando“ (murmelnde Quellen) zu einem mondänen, aber leeren Swimmingpool umzudeuten, dem Nerone dennoch nass entsteigt und um den sich hübsche junge Leute in Badehose und Bikini tummeln.

Dass Italien nicht das Land des praktischen Feinripp ist, scheint für einen Ausstatter von Format wie Gideon Davey selbstverständlich; ganz allgemein glänzt die Produktion mit edlem Zwirn und bietet schon rein optisch so viel Italianità, wie wir im Belcanto heutzutage häufig vermissen. Dazu passt die monumentale Bogenarchitektur des römischen Palazzo della civiltà italiana, der die Kulisse für alle Schauplätze (das kaiserliche Büro, Poppeas Schlafzimmer, der Pool) bildet. Ins Sittenbild Italiens und dieser Produktion passt wiederum die Tatsache, dass ein Luxuslabel diesen Palast (ein Musterbeispiel faschistischer Architektur) im letzten Jahr zu seinem Hauptquartier gemacht hat.

Für eine Produktion dieser Art ist es essentiell, dass alle Partien mit schauspielerisch talentierten Sängerinnen und Sängern besetzt sind, und da kann man den einen oder anderen gesanglichen Makel gelassen hinnehmen. Gespielt wurde an diesem Abend fantastisch, gesungen wurde entsprechend Händels Anforderungen, aber nicht immer großartig. Patricia Bardon als ansonsten überzeugende Titelheldin neigte in der Höhe dazu, zu forcieren, Damien Pass als Pallante dafür in der Tiefe, und es gibt stimmschönere Countertenöre als Jake Arditti (Nerone), Filippo Mineccia (Ottone) und Tom Verney (Narciso). Eine komplette Leistung gaben da jedoch Danielle de Niese als Poppea und Mika Kares als Claudio. Im Graben spielte das Balthasar-Neumann-Ensemble unter der Leitung von Thomas Hengelbrock mit großer Liebe zum Detail und Engagement. Feminist(inn)en, die von Wiener Orchestern Anderes gewohnt sind, durften sich zusätzlich an dem Umstand freuen, dass in diesem Originalklangorchester mit Ausnahme des Konzertmeisters die Geigenbögen allesamt in weiblicher Hand, und insgesamt die Damen in leichter Überzahl sind.

Aus weiblicher Sicht wäre man vollkommen zufrieden gewesen, hätte Carsen das glückliche Ende des Librettos einfach durchgezogen, jedoch entschied sich dieser als Hinweis auf historische Gegebenheiten, die unabhängige Frau (also Agrippina) im Finale ermorden und das Würstel Nerone triumphieren zu lassen (so geht es auch bei Carmen, so geht es immer). Schade. Aber das ist auch die einzige Kritik an dieser rundum geglückten Produktion.

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