Der Schleier der Schuld

2017 können die Salzburger Osterfestspiele auf ein halbes Jahrhundert zurückblicken. Im verflixten 49. Jahr stellt die Premiere von Verdis «Otello» die Sinnfrage für dieses Festival.

Christian Wildhagen, Salzburg
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Otello (José Cura) hat genug von einer Welt, in der Brautkleider giftgrün werden vor Eifersucht und Engel (Sofia Pintzou) schwarz vor Leid. (Bild: Monika Forster)

Otello (José Cura) hat genug von einer Welt, in der Brautkleider giftgrün werden vor Eifersucht und Engel (Sofia Pintzou) schwarz vor Leid. (Bild: Monika Forster)

Muss Othello schwarz sein? Ein «Mohr», wie es Shakespeares «Tragedy of Othello, The Moor of Venice» bereits im Titel fordert? An den Theatern tobt seit längerem eine ideologisch vergiftete Debatte über diese Frage. Das sogenannte «Blackfacing», grob gesagt: das «Umschminken» der Hautfarbe des Hauptdarstellers, steht dabei rasch unter Rassismus-Verdacht. Nun könnte man die Schminke kurzerhand im Schrank lassen und weiter kein Aufhebens um «schwarz», «weiss» oder sonstige Äusserlichkeiten machen.

Schon aber ist man in die Falle von Shakespeares Drama getappt: Ist doch gerade das Gefühl des existenziellen Fremd- und Andersseins der zentrale Antrieb für das am Ende tödliche Handeln des Titelhelden. Noch heikler erscheint indes die Frage, wie sich die brennend aktuellen Probleme von Ausgrenzung und Diskriminierung auf der Opernbühne darstellen lassen.

Schwarzer Engel

In Salzburg, bei den Osterfestspielen im Jahr 49 nach ihrer Gründung durch Herbert von Karajan, stellt man sich dieser Herausforderung bei Giuseppe Verdis später Shakespeare-Oper gar nicht erst. Hier ist Otello einfach der Tenor José Cura. Prachtvoll schaut er aus, der siegreiche venezianische Feldherr, in seinem vom Prunk der «Serenissima» inspirierten Auftrittskostüm. Und prächtig schmettert Cura sein «Esultate!» ins Rund des Grossen Festspielhauses. Später verliert der Gesang, mehr noch aber sein Kostüm an Glanz – das Ende ist kärglich, im schlichten Büsserhemd.

Auch sonst liegt die Welt zu diesem Zeitpunkt in Trümmern, sieht in Salzburg aber immer noch sehr edel und aufgeräumt aus. Ob das Produktionsteam um den Regisseur Vincent Boussard, den Bühnenbildner Vincent Lemaire und den berühmten Couturier Christian Lacroix (Kostüme) also mit der «Vermenschlichung» des Helden im härenen Gewand eine Botschaft verbinden wollte, steht dahin. Die Botschaft dieser Inszenierung ist ohnehin eine ungewisse Angelegenheit.

Dabei beginnt alles recht stimmig und optisch spektakulär: Zu Verdis grandioser Sturmmusik, die das Werk mit einem Paukenschlag der Elemente eröffnet, weht ein bühnenbreiter weisser Schleier über den Orchestergraben hinaus bis ins Auditorium, als wolle er die Besucher – zumindest die auf den teuersten Plätzen – unmittelbar ins Geschehen saugen. Es wetterleuchtet, blitzt und nebelt urgewaltig, der Chor der Sächsischen Staatsoper Dresden schliesst hinter dem Schleier sogleich verängstigt die Reihen, und plötzlich gebiert die Finsternis der zypriotischen Gewitternacht einen Engel mit schwarzen Flügeln, der Otello fortan als zwielichtiger Begleiter durch das Geschehen folgt.

Diese Engelsgestalt, von der Tänzerin Sofia Pintzou mit luftgeisthafter Unauffälligkeit verkörpert, ist der deutlichste Hinweis, dass es in dieser Produktion unter der ebenso ästhetischen wie kostspieligen Oberfläche noch eine weitere Ebene geben muss, nämlich eine wirklich interpretatorische Auseinandersetzung mit dem Stoff. Doch wie leider häufiger bei diesem Regie-Team ertrinkt der Ansatz bald in der Flut der schönen Bilder.

Wer sich diesem Bilderrausch nicht einfach mit der Haltung eines Fernsehkonsumenten überlassen will, darf sich an ein paar Andeutungen abarbeiten. Was hat es, zum Beispiel, auf sich mit der doch recht offensichtlichen Schwarz-Weiss-Dialektik des Bühnenbilds? Ist dies etwa Boussards verzagter Kommentar zum – sonst sorgsam vermiedenen – «Blackfacing»? Und warum spielt der Engel so lange buchstäblich mit dem Feuer, bis er sich, kurz bevor es der armen Desdemona an den Kragen geht, seine schwarzen Flügel verbrennt?

Boussard und sein Team geben keine Antworten, sie verwechseln poetische Offenheit mit szenischer Vagheit. Ihnen fehlt der Mut, dem Reigen optisch schöner Einfälle eine Richtung, vor allem aber den Figuren in diesem Spiel eine klare Zeichnung zu geben. Das wiederum hat verheerende Folgen für die Wirkung von Verdis Oper. José Cura, der die Rolle schon vor Probenbeginn von Johan Botha übernommen hatte, kann sich, hörbar rollenerfahren, wie er ist, um stimmliche Differenzierung bemühen, so viel er will: Da dieser Otello weder Charakter- noch Lebenstiefe hat – von der Problematik der Hautfarbe und seines Aussenseitertums zu schweigen –, wirkt er bald bloss noch wie eine Marionette am unsichtbaren Faden des Erzintriganten Iago.

Verdi und sein kongenialer Librettist Arrigo Boito haben freilich die Idee, die Oper «Iago» zu betiteln, am Ende verworfen: um genau diese Wirkung zu vermeiden. Die Frage der Schuld und die Beweggründe der krankhaften Eifersucht, die zur Ermordung Desdemonas führen, müssen sich vielmehr in Otello selbst verkörpern. Cura, sonst darstellerisch von der Regie mit allenfalls konventionellen Gesten bedacht, realisiert dies zumindest in der Schlussszene «Niun mi tema» mit der gebotenen Eindringlichkeit: Wie gebrochen von der Last der schuldhaften Verstrickung seiner Figur, sinkt er an der Wand des Schlafgemachs nieder, nimmt Ausdruck und Stimme ganz zurück ins Allerpersönlichste, und in der Wahrnehmung des sinnlosen Leids reift die nur noch geflüsterte Erkenntnis: «Otello fu» – alles, was seine Feldherrenglorie und seine Liebe ausmachte, ist dahin.

Richtungswechsel

Christian Thielemann und die Staatskapelle Dresden, die seit 2013, seit dem Wechsel der Berliner Philharmoniker und Simon Rattles nach Baden-Baden, die Osterfestspiele in Salzburg bestreiten, begeben sich mit Verdi an diesem Ort auf Neuland. Zwar durfte man das Verismo-Doppel «Cavalleria» und «Bajazzo» 2015 als ersten Schritt ins italienische Fach deuten; doch Thielemanns Zugriff auf Verdi überzeugt nur bedingt.

Als wollte der grosse Wagner-Interpret partout jeden Vorwurf entkräften, er deute Verdi gleichsam durch die Bayreuther Brille, bricht er den Orchesterklang stellenweise radikal auf. Die Konsequenz dieses richtigen Schritts ist jedoch kein italienisches Brio; auch das für Verdi typische schlaglichtartige Hell-Dunkel der Instrumentation tritt selten hervor. Stattdessen hört man etliche grobe oder unscharfe Einsätze in den einzelnen Instrumentengruppen.

Mit Carlos Álvarez bietet die Produktion immerhin einen stimmlich eindrucksvollen Iago auf. Die in der Höhe scharfe Dorothea Röschmann klingt als Desdemona dagegen eher nach Elsa, nicht nach italienischem Lirico-Spinto-Sopran. Den frischesten Eindruck hinterlässt der bis 2015 in Zürich beheimatete Benjamin Bernheim als Cassio.

Für ein Luxus-Festival wie Salzburg, das seine Relevanz künstlerisch stets aufs Neue unter Beweis stellen muss, ist diese Bilanz wenig befriedigend. Peter Ruzicka, seit diesem Jahr als geschäftsführender Intendant der Osterfestspiele zurück an der Salzach, tut deshalb gut daran, dass er mit Thielemann und der Staatskapelle zum Jubiläum 2017 in Repertoiregefilde umsteuert, die den Musikern besser liegen dürften. Dann hat Wagners «Walküre» Premiere.