Glücklicher Rossini! Zur Uraufführung seines Otello 1816 in Neapel wollten gleich drei exzellente Tenöre adäquat beschäftigt werden – aber diese Spezialität ist auch ein Grund, warum sich das Werk trotz mitreißender Musik im Repertoire nicht durchsetzen konnte. Ein anderer ist der lockere, vielleicht sogar ungeschickte Umgang des Librettisten Francesco Maria Berio mit der großen literarischen Vorlage, der schon von Rossinis Zeitgenossen kritisiert wurde. Wenn es jedoch gelingt, so wie aktuell im Theater an der Wien, diesen Schwierigkeiten mit einer durchdachten Neuinterpretation und einer selten exquisiten Auswahl an Sängern mutig zu begegnen, darf gejubelt werden.

Regisseur Damiano Michieletto hat für diesen Otello ein Kammerspiel entworfen, das die Konstellationen der Personen neu ordnet und trotzdem punktgenau zu Rossinis Musik passt. Konflikte mit dem Libretto sind dabei nur scheinbare, da sie sich psychologisch deuten lassen. Der militärische Kontext des Dramas weicht in dieser Inszenierung dem Topos „reiche, moderne Gesellschaft“, die zur Aufrechterhaltung ihres sozialen Status den Mauren Otello und dessen Erdölgeschäfte braucht. In dieser Gesellschaft sind zwei mutterlose, erschreckend dysfunktionale Familien beheimatet: Der Doge und sein Sohn Rodrigo einerseits und Elmiro mit den Töchtern Desdemona und Emilia sowie deren Cousin Jago andererseits. Emilia ist Papas Liebling und nützt ihre Stellung gegenüber Desdemona aus, welche vom Vater außer der Forderung, Rodrigo zu heiraten (was aufgrund ihrer heimlich mit Otello geschlossenen Ehe unmöglich ist), nichts zu erwarten hat; die Vaterliebe aus dem Libretto ist nur ein Lippenbekenntnis.

Auf der anderen Seite will Rodrigo seinen Vater, der ebenfalls die Verbindung mit Desdemona verlangt, nicht enttäuschen und gehorcht ihm brav, auch wenn er sich Wahrheit zum anderen Geschlecht hingezogen fühlt. Dass aber ausgerechnet Jago zum Objekt der Begierde wird, ist vielleicht die einzige Schwäche in dem ansonsten schlüssigen Konzept: Was ist an diesem schmierigen, verhaltensorigellen und aufmerksamkeitsdefizitären Jago attraktiv? Allerdings ist Jagos Zeichnung durch Michieletto auch eine brillante Erklärung für jenen Selbsthass, den Jago letztendlich am erfolgreichen Moslem Otello und an der schönen, unschuldigen Desdemona auslebt.

An Letzterer machen sich dafür alle schuldig, doch bleibt ihr Kleid auch dann weiß, wenn sich die Gäste ihrer Überraschungshochzeit, durch Jago angestachelt, mit (Erd)öl aus der Kaviarschüssel besudeln. Von diesem Moment an, dem Finale des ersten Akts, scheint ihr Schicksal besiegelt: Verstoßen vom Vater und von der Gesellschaft geächtet, vom eigenen Mann der Untreue bezichtigt, ist ihr Leben zerstört. Konsequenterweise – sie war vom Arzt (Lucio) bereits zuvor wegen offensichtlicher Depression medikamentös behandelt worden – muss Otello sie gar nicht töten. In dem großen, rund um ihre Partie aufgebauten dritten Akt, von dem Rossini einst meinte, dass er von ihm „bleiben“ würde, erledigt sie das selbst.

Die musikalische Leitung des Abends lag in den Händen von Antonello Manacorda, der mit dieser Aufführungsserie sein Debüt im Haus an der Wien gibt. Dass er und Michieletto schon seit Jahren ein eingespieltes Team sind, fiel durch die sorgfältige Feinabstimmung von Musik und Bühnengeschehen angenehm auf. Allerdings konnte er den Wiener Symphonikern nicht immer italienische Eleganz entlocken: Hinter einem Rossini-Crescendo stecken zwar Arbeit und Konzentration, aber das sollte im Idealfall nicht zu hören sein. Dennoch darf das Orchester auf seine Leistung stolz sein, übertraf sie doch das, was im Belcanto-Notstandsgebiet Wien üblicherweise zu hören ist, bei weitem, und auch die zahlreichen Instrumentalsolisten verdienen Lob.

Lob gebührt auch dem Willen und dem Einsatz eines ungeplanten Duos, nämlich der erkälteten und von Ärzten mit Sprechverbot belegten Nino Machaidze als Desdemona auf der Bühne sowie ihrer kurzfristig aus Spanien angereiste stimmliche Vertretung Carmen Romeu, welche die Partie aus dem Graben sang. (Die weiteren Aufführungen wird sie auf der Bühne bestreiten). Dass unter diesen Umständen –die Rossini-Desdemona ist eine technisch sehr anspruchsvolle Partie – nicht alles gelingen kann, ist ebenso verständlich wie die Entscheidung, Gaia Petrone (Emilia) als indisponiert ansagen zu lassen.

Somit lag die vokale Verantwortung bei den Herren, und diese erledigten, wie schon eingangs angedeutet, ihre Aufgabe mit Bravour. John Osborn als Otello zeigte, dass sein aufregend dunkel timbrierter Tenor flexibel und voluminös zugleich ist und dem Orchester auch im Forte Paroli bieten kann. Dass er sich in der Tiefe weniger wohl fühlte als bei den absolut sicheren Spitzentönen, fiel da nicht ins Gewicht. Begeistert war das Publikum auch von Maxim Mironov, der als Rodrigo im Hit dieser Oper, „Ah come mai non senti“, mit Virtuosität und hellem, weichem Rossini-Timbre gleichermaßen überzeugte. Jago hat keine Arie, aber kunstvoll komponierte Duette zu singen, und auch für diese Aufgabe hatte man eine ausgezeichnete Besetzung gefunden, nämlich das ehemalige Mitglied des Jungen Ensembles des Theaters an der Wien, Vladimir Dmitruk. Die übrigen Partien waren adäquat besetzt, wobei besonders Julian Henao Gonzalez in der Mini-Rolle des Arztes Lucio positiv auffiel.

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