Die Dame mit der Grusel-Maske

Am Wochenende feierten «Die Sache Makropulos» von Janáček und Brittens «Peter Grimes» Premiere in Wien. Das Rennen zwischen der Staatsoper und dem Theater an der Wien ging überraschend aus.

Christian Wildhagen
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Zu Bett ins Nirgendwo: Joseph Kaiser (Peter Grimes, links) und Andrew Foster-Williams (Balstrode) im Theater an der Wien. (Bild: PD)

Zu Bett ins Nirgendwo: Joseph Kaiser (Peter Grimes, links) und Andrew Foster-Williams (Balstrode) im Theater an der Wien. (Bild: PD)

Seit Jahren gilt das Theater an der Wien als progressivste Opernbühne der Stadt. Die Staatsoper, das Traditionshaus am «Ring», wird dagegen gern als in Ehren verstaubtes Theatermuseum etikettiert, das seine bemerkenswerten Auslastungszahlen vor allem dem Nimbus, den mehr oder weniger illustren Künstlernamen sowie Scharen unkritischer Touristen verdanke. Beide Institute leben recht gut von der eingeübten Rollenverteilung, denn zusammen mit der Volksoper bedienen die drei Wiener Opernhäuser damit eben auch drei deutlich unterschiedene Besuchergruppen und deren verschiedene Interessen. Bei den drei Berliner Opernbühnen sind die Profile im Vergleich weit weniger gegensätzlich. Am vergangenen Wochenende hatte man nun wieder einmal Gelegenheit, die gewohnten Rollenbilder zu überprüfen.

Illustrieren oder deuten?

Äusserlich schien alles zu passen: Das Theater an der Wien hatte für Benjamin Brittens Oper «Peter Grimes» den Musiktheater-Granden Christof Loy gewonnen; die Staatsoper beschäftigte für ihre Erstaufführung von Leoš Janáčeks Spätwerk «Die Sache Makropulos» die lebende Regie-Legende Peter Stein, der sich seit einiger Zeit in öffentlichen Verlautbarungen gekonnt und mit dem erwarteten Echo zum letzten verbliebenen Bewahrer von Text- und Werktreue im Opern-Genre stilisiert.

Die Bühnenbilder unterstreichen die damit bezeichneten Gegensätze nach Massen. Für «Peter Grimes» hat Johannes Leiacker einen kargen, fast abstrakten Spiel-Raum geschaffen: schwarze, bühnenhohe Wände, ein als Himmel oder Meeresoberfläche à la Gerhard Richter stilisierter Boden und vorn an der Rampe, halb im Orchester hängend, ein Bett. Dieser auf Dauer eher unattraktive Raum macht seine Botschaft überdeutlich: Schau mich gar nicht an, schau lieber auf oder, besser noch, in die Figuren – hier geht es um innere Vorgänge, um Psychologie. Was bei einem Seelendrama wie «Peter Grimes» freilich eine wenig originelle Erkenntnis ist.

Peter Stein hält nach eigenem Bekunden ebenfalls viel von Psychologie. Er will die Zuschauer aber nicht mit Nachdruck darauf stossen wie Loy und Leiacker. Das Seelische und Zwischenmenschliche soll sich deshalb bevorzugt in der schauspielerischen Interaktion widerspiegeln. Ferdinand Wögerbauer hat Stein dafür drei prachtvolle Räume geschaffen, einen für jeden Akt der «Sache Makropulos»: zuerst eine herrlich verschnörkelte Uralt-Bibliothek mit leichter Kafka-Atmosphäre; dann eine rückwärtige Bühnenansicht, die als Prospekt den originalen, 1945 ausgebrannten Zuschauerraum der Wiener Staatsoper zeigt; und schliesslich ein Hotelzimmer mit einem bis ins Detail den zwanziger Jahren nachempfundenen Interieur. Wunderschön sieht dies aus und wird noch veredelt durch die eleganten Kostüme von Annamaria Heinrich. Bloss passiert dann fast drei Stunden lang nichts, fast nichts, auf dieser Bühne.

Während Christof Loy seine Protagonisten und stellenweise auch den grossartig engagierten Arnold-Schoenberg-Chor unablässig von einer Ecke des schwarzen Leiacker-Kastens in die andere treibt und dabei darstellerisch vor allem Joseph Kaiser, dem Sänger des Grimes, ein Äusserstes abverlangt, stehen die Figuren bei Peter Stein brav und hübsch und seelenlos herum. Von der versprochenen Interaktion, von einer erotischen oder wie immer gearteten Spannung zwischen ihnen ist nichts zu spüren, die Personen wirken allenfalls gestellt, nicht geführt, auch die Rollencharaktere bleiben weitgehend unscharf. Dies sind handwerkliche Defizite, völlig unabhängig von der ästhetischen Stossrichtung der Regie, die bei einem Altmeister wie Stein doch mehr als überraschen.

Bei Loy kann man am Abend zuvor das gegenteilige Extrem beobachten. Hier wird alles explizit gemacht – bis an die Grenze zur Überzeichnung. Bei den Nebenfiguren, etwa dem Opportunisten Swallow (grossartig profiliert: Stefan Cerny), dem religiösen Eiferer Boles (Andreas Conrad) oder der opiumsüchtigen Lady Sedley (Rosalind Plowright), gelingen auf diese Weise drastische Karikaturen; die Hauptfiguren, die gerade in diesem Werk von ihrem unausgesprochenen Geheimnis leben, verlieren dagegen etwas an Vielschichtigkeit. Zumal Loy auch in der lange Zeit heikelsten Frage des Werks das Eindeutige nicht scheut: Der Fischerjunge John, der wie seine Vorgänger unter schwer zu durchschauenden Umständen zu Tode kommt, ist eben nicht der «innocent boy», der Britten wohl vorschwebte, sondern ein androgyner Verführer, verkörpert von dem Balletttänzer Gieorgij Puchalski, der dem Finsterling Grimes und mehr noch dessen Freund Balstrode den Kopf verdreht.

Während Grimes das homosexuelle Begehren als naturgegeben hinnimmt, sich in seiner Isolation aber weder der ihm zugetanen Ellen Orford (berührend: Agneta Eichenholz) noch dem Liebhaber selbst gegenüber anders als durch Brutalität und Zurückweisung artikulieren kann, verheddert sich der gesellschaftlich etablierte Balstrode (sehr eindringlich gespielt und gesungen von Andrew Foster-Williams) heillos in dem Netz unterdrückter Emotionen, in das er hier sehenden Auges gerät. Am Ende wird sich Balstrode, wie auf der Suche nach Schutz und dem Urzustand der Unschuld, in dem besagten Bett am Bühnenrand verkriechen, das zuvor zum Ort einer Begegnung zwischen Grimes und John geworden ist, mit der verglichen der Liebesakt zwischen Igeln von nachgerade inniger Zärtlichkeit erscheint.

Das erotische Spannungsverhältnis zwischen den drei Männern ist die Zutat Loys, mit der er seinem Ruf als Musiktheater-Regisseur am deutlichsten gerecht wird. In der Rezeptionsgeschichte von Brittens erstem, Anfang 1945 vollendetem Opernmeisterwerk ist diese Interpretation freilich ein alter Hut. Den von Kaiser so intensiv und stimmlich fast ohne Mühen dargestellten Gefühlsautismus der Titelfigur allein aus dessen – und des Komponisten – Homosexualität zu erklären, taugt heute kaum mehr zum Skandalon, geschweige denn, um die Figur des Grimes wirklich in all ihrer inneren Zerrüttung zu durchdringen.

Altmeister mit Regie-Keule

Weitaus heftiger als Loy – und das ist die eigentliche Kuriosität dieses Wiener Premierenwochenendes – schwingt indes Peter Stein die eigentlich verpönte Regie-Keule am Ende seiner Janáček-Inszenierung. Nachdem das 1926 uraufgeführte Werk drei Akte lang die Geschichte jener Elina Makropulos ausgebreitet hat, die durch ein Wunderelixier ihres Vaters mit einem 337 Jahre währenden Leben «beschenkt» wurde, will Stein partout nochmals für alle verdeutlichen, was die Musik ohnehin vom ersten Takt an sagt: dass nämlich ein derart langes Leben eben kein Geschenk, sondern eine Zumutung ist, die bei jedem Methusalem zwangsläufig zu Zynismus, grenzenlosem Ennui und moralischem Niedergang führt. Stein aber lässt «E. M.» am Ende auch körperlich zusammenbrechen, zeigt sie plakativ als lebenden Leichnam, halb verwest, mit Grusel-Maske, und nur die selbst hier noch absolut glaubwürdige, auch stimmlich überragende Laura Aikin in der Rolle dieser Untoten bewahrt die Szene vor dem Absturz ins Lächerliche.

Die übrigen Beteiligten an diesem Abend bleiben – mit Ausnahme zweier Szenen mit der Charaktertenor-Legende Heinz Zednik als Hauk-Sendorf – seltsam farblos. Und dies liegt nicht bloss an der Regie, sondern auch an dem Dirigenten Jakub Hrůša, dem designierten Chefdirigenten der Bamberger Symphoniker, der Janáčeks Partitur bei seinem Staatsoperndebüt als ununterbrochenen pulsierenden Orchestermonolog mit obligaten Singstimmen präsentiert.

Dies ist, obschon das Staatsopernorchester durch Janáčeks ausgehöhlte, Klang-Extreme auslotende Instrumentation bis an seine Grenzen gefordert ist, nicht ohne Reiz, ignoriert aber den Konversationston der Singstimmen, die kaum Gelegenheit zu melodisch tragender Entfaltung haben. Wie man orchestrale Hochspannung mit Rücksicht auf die Sänger verbindet, zeigt dagegen Cornelius Meister mit dem ORF-Orchester im Theater an der Wien: Auch hier liegt der Erzählstrom im Orchester, auch dieser Abend ist stellenweise sehr laut und weit entfernt von dem britischen Meeres-Impressionismus auf Brittens eigener Einspielung; doch Graben und Bühne dienen mit ihrer sich gegenseitig potenzierenden Intensität jederzeit dem Werk.