Und dazwischen das Leben

Im zweiten gemeinsamen Bühnenwerk von Jon Fosse und Georg Friedrich Haas wird Handlung zur Nebensache. Den Raum füllt die Musik, die den Opernrahmen durch neue Ausdrucksformen sprengt.

Julia Ramseier, London
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Warten – nur worauf? Klaus Maria Brandauer als Olai in «Morgen und Abend» am Royal Opera House London. (Bild: Clive Barda)

Warten – nur worauf? Klaus Maria Brandauer als Olai in «Morgen und Abend» am Royal Opera House London. (Bild: Clive Barda)

Bei dieser Oper passiert alles und nichts in einem einzigen Akt. Geburt, Tod – und dazwischen das Leben. In den Grenzgebieten menschlicher Erfahrung, zwischen Morgen und Abend, Licht und Schatten, bewegt sich auch die Musik des Österreichers Georg Friedrich Haas, rastlos, schrankenlos.

«Morgen und Abend» ist eine Koproduktion zwischen dem Royal Opera House und der Deutschen Oper Berlin und bereits die zweite Zusammenarbeit nach der Opernproduktion «Melancholia» (2008 in Paris uraufgeführt) von Haas und dem norwegischen Erfolgsautor Jon Fosse. Auf dessen Kurzroman «Morgen und Abend» aus dem Jahr 2000 basiert das Libretto. Darin entwickelt Fosse allerdings weniger eine Handlung als vielmehr einen Diskurs, der Sprache, Klang und menschliche Empfindung in ein permanentes Wechselspiel zwingt.

Melodram mit Brandauer

Das Ergebnis bricht mit traditionellen Opernformen – eine Herausforderung für das Londoner Publikum. Zwar lässt Haas Musiker und Zuhörer nicht buchstäblich im Dunkeln sitzen, wie es die Spielanweisung zu seinem 3. Streichquartett vorschreibt. Doch auch «Morgen und Abend» sucht das Experiment, beginnt mit einem gewaltigen Paukenschlag, es folgen brodelnde Trommelwirbel und ein fast vierzigminütiges Melodram als Eröffnung.

Graham Vick, der Regisseur der Uraufführung, hält den Bühnenraum dazu karg: Nichts als ein grau-weiss getünchtes Zimmer gönnt er dem Auge, ausgestattet mit einem Boot – Sinnbild von Unveränderlichkeit. In dem Raum sitzt der Fischer Olai und wartet auf die Geburt seines Sohnes. Als Olai gibt der Schauspieler Klaus Maria Brandauer sein Debüt am Royal Opera House. Der gesprochene Monolog Olais kennt weder Punkt noch Komma oder Versmass und lässt, stilistisch entgrenzt, Assoziationen übergangslos ineinandergleiten.

Die Musik verfolgt eine dazu komplementäre Strategie: Je weniger Handlung im Bühnenraum, desto tiefer und nuancierter dringt sie vor in die Gefühlswelt der Figuren. Diatonik genügt Haas dafür nicht, seine Tonsprache driftet ins Mikrotonale, in ein Schattenreich zwischen Hell und Dunkel, in dem gewaltige Gegensätze aufeinanderprallen: Ruhig und lang atmende Sequenzen im akustischen Nirgendwo wechseln mit perkussiven Passagen, Schmerzensschreie mit plötzlicher Stille.

Mit aussergewöhnlicher Sensibilität für Sprache und Klang hält Brandauer seinen Monolog im Fluss, das diffizile Ineinander von Text und Musik glückt scheinbar mühelos. Nicht minder beachtlich ist die Leistung von Orchester und Chor des Royal Opera House unter der Leitung von Michael Boder. Die dichten Tempo- und Rhythmuswechsel, vor allem aber die heikle mikrotonale Intonation gelingen präzise.

Philosophisches Exerzitium

Nach der Eröffnung wechselt die Handlung ins Deutsche, und Sänger betreten die Bühne. Johannes, Olais Sohn, verkörpert von dem Bariton Christoph Pohl, tritt auf. Es ist der Tag seines Todes. Im Austausch mit seiner Tochter Signe – eindringlich und souverän gesungen von der Sopranistin Sarah Wegener –, mit seiner verstorbenen Frau und seinem besten Freund muss er sich existenziellen Fragen stellen. Nach und nach – dramatische Spannung und Tempo nehmen sukzessive zu – erkennt Johannes, dass er selbst gestorben ist. Fosses Libretto hält dabei nicht immer die Balance zwischen dem Tiefgründigen im Alltäglichen und dem Banalen, etwa wenn Johannes motivisch wiederholt, er müsse dem Freund noch die Haare schneiden.

Der Tod wird zuletzt so laut herbeigetrommelt, dass die Orchestermusiker einen Gehörschutz tragen. Man erwarte doch bitte keine Melodien, hatte Haas, nur halb ironisch, angemerkt. Strenggenommen braucht dieses philosophische Exerzitium auch keine Bühne: Die Oper könnte irgendwo gehört werden, als klingende Literatur, vielleicht im Dunkeln, allein. Die Erstaufführung in Berlin folgt im April 2016.