Die vierte Wand ist wurst

Der Bühnen-Verzauberer Achim Freyer verweigert Mozarts nimmersattem Wüstling ein kulinarisches Ende, macht das Spektakel aber für das Publikum in der Wiener Volksoper zum delikaten Genuss.

Daniel Ender
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Fast schon wie im Kasperletheater: Josef Wagner (Don Giovanni) und Mischa Schelomianski (Leporello). (Bild: Barbara Pálffy / Volksoper Wien)

Fast schon wie im Kasperletheater: Josef Wagner (Don Giovanni) und Mischa Schelomianski (Leporello). (Bild: Barbara Pálffy / Volksoper Wien)

Märchenhaft und scheinbar naiv, mit bunten Farben, schemenhaften Gesten und Gestalten: Die Theaterwelten von Achim Freyer wirken zuweilen wie zu Leben erwachte Kinderzeichnungen. Im Bann dieser Bilder (oder auch in der Skepsis, die sie mitunter auslösen) lässt sich leicht übersehen, dass in ihnen Illusionierung und Desillusionierung auf raffinierte Weise unauflöslich miteinander verbunden sind. Einem unmittelbaren Zugang bieten sich pralle Phantasiewelten. Da diese jedoch immer ihr Gemacht-Sein nach aussen kehren, ihre artifizielle Seite also unverhüllt zeigen, führt die Reflexion des Wahrgenommenen zwangsläufig auf die Ebene eines Theaters, das die Erfindung und Handhabung seiner Mittel selbst thematisiert. Dazu muss die Bühnenwirklichkeit noch gar nicht konterkariert werden, obwohl Freyer auch das in Personalunion von Regisseur und Ausstatter gerne tut – nicht nur dort, wo die vierte Wand der Bühne dergestalt durchbrochen wird, dass sich Teile der Handlung im Zuschauerraum abspielen.

Ferngesteuerte Puppen

In seiner Neuinszenierung von Wolfgang Amadeus Mozarts «Don Giovanni» an der Volksoper Wien – seiner ersten Arbeit an dem Haus seit 1997, als er hier Rossinis «La Cenerentola» zeigte – wird der Schleier der Illusion vom ersten Augenblick an gelüftet, als Bühnenarbeiter erst einmal die grosse gedeckte Tafel in der Mitte der Bühne leerräumen. Don Giovanni ist und isst allein, und zwar sichtlich Ungeniessbares. Dieselben Arbeiter werden bei laufender Handlung unentwegt Requisiten herbei- und wieder wegbringen, zugleich aber auch das eine oder andere Zirkuskunststückchen vollbringen, in denen sich das unersättliche Bedürfnis des Edelmanns nach Belustigung zu spiegeln scheint. Das Rätsel, warum für sein Duell mit dem Komtur, gesungen von Andreas Mitschke, überdimensionales Essbesteck verwendet wird und dem Getöteten hernach bis zur Höllenfahrt des Wüstlings eine Gabel aus der Brust ragt, wird erst am Ende – halb – gelöst. Bis dahin bleiben alle Figuren wie ferngesteuerte Puppen in ihren grell gezeichneten Charakteren und Schicksalen gefangen.

Vom zwanghaften Erotomanen Don Giovanni, gewandet wie die Federzeichnung eines Kostümschinken-Musketiers, leuchten die rot behandschuhten Hände hervor, deren beständiges herrisch-zackiges Gestikulieren einen Abglanz seines verlorenen Machtanspruchs bildet. Wie vor Schreck geweitet sind die aufgemalten Augen der Donna Elvira (Esther Lee als kurzfristige Einspringerin für Caroline Melzer); ihr stehen die rosaroten Haare im selben Ausmass zu Berge, wie sie durch den Wind ist. Masetto (Ben Connor) ist die feixende, grimassierende Karikatur eines Bauerntölpels. Wie bei jeder der Figuren kehrt seine Physiognomie Elemente seines Charakters nach aussen, die sich auch in geradezu stereotypen Bewegungen zeigen. Dass diese auch unabhängig von der Handlung wie blinde Reflexe weiterlaufen, verhilft der Szene einerseits zu einem nachhaltigen Eigenleben, das noch dadurch gesteigert wird, dass die Figuren ständig zwischen italienischem und deutschem Text wechseln. Andererseits jedoch koppelt sie dies auch von der Musik dergestalt ab, dass beide Ebenen eher nebeneinander herlaufen.

Dabei ist die Leistung des Volksopern-Orchesters, das in Wien den Vergleich mit mehreren erstrangigen Klangkörpern aushalten muss, mehr als respektabel. Der niederländische Dirigent Jac van Steen führt es mit straffer Hand, lässt es plastisch und differenziert artikulieren und widmet den Klangfarben viel Aufmerksamkeit. Dass das Zusammenspiel mit den Sängern nicht immer ganz klaglos funktioniert, mag eben auch damit zu tun haben, dass die Regie einen Gleichklang zwischen Musik und Szene überwiegend vermeidet.

Das hindert jedoch das Ensemble, das grösstenteils aus der Volksoper selbst stammt, nicht an profilierter Rollengestaltung: Josef Wagner findet in der Titelrolle mit zuweilen geradezu lyrischer Zurückhaltung ein stimmliches Äquivalent zum Gegensatz zwischen kraftstrotzendem Lebenshunger und innerer Bedrohtheit. Donna Anna (Kristiane Kaiser) und Don Ottavio (Jörg Schneider) bilden ein musikalisch durchweg verlässliches Paar. Anita Götz ist eine Zerlina, die Jungmädchen-Charme und Energiegeladenheit verbindet, Mischa Schelomianski ein nicht nur munter orgelnder, sondern auch stimmlich zwischen Tragik und Komik schwankender Leporello.

Kulinarisches Ende

Dessen Satz im Epilog, er wolle nun in die Wirtschaft gehen und sich einen neuen Herrn suchen, nimmt Freyer wörtlich, indem er am Ende kurzerhand ein Restaurant mit dem Namen «Giovanni» aufsperren lässt. Hier fügt sich eine Klammer zum Anfang, jedoch nicht, ohne neue Rätsel aufzugeben. Denn der in seine Körperteile zerrissene Protagonist wird, anstatt zur Hölle zu fahren, von seinen Jägern und Feinden kurzerhand verspeist. Anschliessend das Publikum auf die Bühne zu bitten und ihm «Würstl à la Giovanni» zu servieren, ist ein frecher Clou. Immerhin war da die Tafel endlich gefüllt, sowohl mit Menschen als auch mit offensichtlich geniessbaren Speisen. Dass die Inszenierung Einzelnen im Publikum sauer aufstiess, verwunderte nicht. Den meisten dürfte sie jedoch, dem Zuspruch nach zu schliessen, gemundet haben.