Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Oper „Peter Grimes“ als Kammerspiel mit einem Ozean an Klängen zur Spielzeiteröffnung des Theater Bremen Meeresstürme im Gehirn

Bremen. Vergleichsweise spät eröffnete das Theater die neue Opernspielzeit – doch das Warten hat sich gelohnt: Benjamin Brittens emotional aufwühlende Oper „Peter Grimes“ konnte man am Goetheplatz in einer ungewöhnlichen, atmosphärisch dichten Produktion erleben mit einem furiosen Orchestersound als Basis.
05.10.2015, 00:00 Uhr
Lesedauer: 3 Min
Zur Merkliste
Von Markus Wilks

Vergleichsweise spät eröffnete das Theater die neue Opernspielzeit – doch das Warten hat sich gelohnt: Benjamin Brittens emotional aufwühlende Oper „Peter Grimes“ konnte man am Goetheplatz in einer ungewöhnlichen, atmosphärisch dichten Produktion erleben mit einem furiosen Orchestersound als Basis.

Im Zweifel für den Angeklagten! Wir wissen, dass dieser Grundsatz oft nur ein hehres Ziel ist, denn Menschen neigen zu Vorverurteilungen, insbesondere wenn sie in Massen auftreten. Entsprechend zeitlos ist Brittens Oper „Peter Grimes“, die Massenhysterie beschreibt und der Titelfigur keine Chance gibt, den Tod zweier Lehrjungen zu erklären. Nun ist Grimes alles andere als eine harmlose Seele, vielmehr auch rücksichtslos und brutal. Britten jedoch bringt uns Grimes‘ Schicksal nahe, indem er auch dessen gequälten Seiten zeigt und dadurch so etwas wie Verständnis für diesen Exzentriker.

In seiner ersten Inszenierung am Theater Bremen entfernt sich Marco Štorman noch weiter vom Vorbild der Oper (George Crabbes Dichtung „The Borough“) als der Komponist. Während Grimes im Original vor allem brutal ist, wird er bei Britten viel-schichtiger gezeigt. Štorman bietet uns einen Gegenentwurf, indem er den Fokus auf die mitfühlenden, leidenden Seiten Peters lenkt. Dank der Bremer Philharmoniker, die keine Noten, sondern Theatermusik zum Bühnengeschehen liefern, und des famos spielenden Will Hartmann in der Titelpartie besitzt dieses Konzept eine ganz große Überzeugungskraft, obwohl es nicht der Britten ist, den wir kennen.

Štorman zeigt keine reale Handlung, sondern inszeniert quasi Grimes‘ Seele. Das ist nicht immer leicht zu verstehen und nicht jeder Moment gelingt so gut wie die gespenstische Eröffnungsszene mit der Gerichtsverhandlung. Selbst wenn unklar ist, welche Bilder erfunden, erlebt oder geträumt sind, überzeugt der Regieansatz, weil er so gut mit der Musik harmoniert: Markus Poschner gehört sicherlich zu den Dirigenten in Deutschland, die Partituren am stärksten zuspitzen und die Emotionen in einem Werk besonders stark herausarbeiten können. Die Bremer Philharmoniker folgten ihm in der Premiere auf höchstem Niveau. Sie schleuderten Brittens Dissonanzen auf eine künstlerische Weise brutal aus dem Orchestergraben, dass man wie in einem 3-D-Film von den Meereswogen überwältigt wurde und die gruseligen Stimmen aus Peters Kopf hörte. Dann wiederum zauberten die Philharmoniker irreal schöne oder traurige Gegenpole, sie badeten in einem Meer feinster Klänge. Ähnlich bestechend auch die Präsenz des Opernchores (Einstudierung: Daniel Mayr), der sich mit einer ungewöhnlichen Textbe-handlung und schonungslosem Einsatz effektvoll präsentierte.

Anna Rudolph und Dominik Steinmann haben für die Bühne keine Meereslandschaft oder britisches Lokalkolorit entworfen, sondern einen „Seelenraum“. Wir erblicken inmitten einer riesigen Wasserlache ein drehbares Haus, das laut Programmheft „zunehmend von den Ängsten der Titelfigur besetzt wird“. Das mag zunächst nach typischem Regietheaterklischee klingen, entpuppte sich in der Realität auch wegen des vielen Wassers als eine nachvollziehbare Entscheidung im Einklang mit Musik und Handlung. Später wurde das Haus per Videoeinspielung abgebrannt (überhaupt starke bewegte Bilder von Max Görgen und Roman Kuskowski), sodass Grimes auf der leeren Bühne Abschied von der Welt nehmen musste. Das waren bewegende Momente dank der Philharmoniker und Will Hartmann, der seinen baritonal grundierten Tenor überwie-gend weich und (meistens gekonnt) zerbrechlich führte. Überhaupt war der Gast die perfekte Besetzung für die Bremer Inszenierung, weil er vor allem die sanften Seiten mit bestechender Wirkung zeigte und Grimes‘ brutale Ader immerhin andeutete (was man allerdings auch als zu wenig hart empfinden kann). Auch die Idee, den Lehrjungen zu vervierfachen und diese Knaben als Spiegelbilder von Peters (Kinder-)Seele zu deuten, führte zu interessanten, ausbaufähigen Bildern. Neben der mit weißen Perücken gefährlich wirkenden Chormasse wurden die übrigen Solisten zu skurrilen Gestalten weg vom Original-Britten verzerrt (Kostüme: Sara Schwartz), sodass der biedere Grimes fast wie ein Normalo wirkt – und das in dieser Oper... .

Angeführt vom grotesken Dorfprediger Boles (Christian-Andreas Engelhardt mit Mut zur Hässlichkeit) und dem aufgeplusterten Bürgermeister Swallow (Patrick Zielke wiederum mit Präsenz) versammelte sich eine Meute an teilweise hervorragend besetzten Typen (Jason Cox als Keene, Nathalie Mittelbach als Auntie, Luis Olivares Sandoval als Adams, Christoph Heinrich als Hobson, Melody Wilson als Mrs. Sedley). Loren Lang war der fehlsichtige Geisterkapitän Balstrode, sein grober, gekonnt eingesetzter Bassbariton passte hervorragend zur Rolle. Schließlich Patricia Andress als Ellen Orford, die mit leuchtenden Soprantönen einen Kontrast zu allen anderen Sängern bildete, deren Stimmklang aber nicht mit Grimes harmonierte, was die Aussagekraft der Inszenierung jedoch stärkte. Einstimmiger Jubel für alle Beteiligten.

Jetzt sichern: Wir schenken Ihnen 1 Monat WK+! Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)