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"La Traviata" in Linz
Kammerspielhaftes Seelendrama

2013 hatte Gérard Mortier als Intendant der Oper von Madrid den Amerikaner Robert Wilson eingeladen, Verdi zu inszenieren. 2015 sollte Premiere gefeiert werden, doch Mortier starb 2014. Und so ist die "Traviata", die Robert Wilson jetzt in Linz auf die Bühne gebracht hat, Gérard Mortier gewidmet.

Von Jörn Florian Fuchs | 21.09.2015
    Im Vorfeld dieser Premiere hörte man Gerüchte, der amerikanische Bühnenzauberer Robert Wilson wolle sich neu erfinden, seinen allseits bekannten Theaterstil tatsächlich modifizieren. Doch schon das erste Bild der "Traviata" zeigt Altbekanntes, einen hellen Lichtstreifen am Horizont, davor leuchtet es blau. Stilisierte Figuren erscheinen mit ruckelnden Bewegungen. Sie singen sich nicht an, sondern stehen vorwiegend an der Rampe, mit leerem Blick zum Publikum. Eisig ist die Stimmung, kühl zuweilen auch das Dirigat von Daniel Spaw, der den Untergang der Kurtisane Violetta Valéry in eher sanfte, oft auch sehr leise Töne packt.
    Statt italianità gibt es ein fein ausgehörtes, kammerspielhaftes Seelendrama, das auch durch den gut einstudierten Chor und ein ordentliches Sängerensemble getragen wird. Jacques Le Roux ist ein toller Alfredo, Kerstin Eder eine herausragende Annina, Seho Chang verleiht dem Vater Alfredos vokale Autorität. Lediglich Myung Joo Lee in der Titelrolle enttäuscht durch harte, schrill klirrende Spitzentöne, dafür hat sie Robert Wilsons präzisen Gestenapparat wirklich perfekt verinnerlicht. Wieder sieht man dem asiatischen Theater entlehnte, ausgedehnte Hand- und Armbewegungen, überdrehtes Trippeln, eine bewusst künstlich gehaltene Choreografie. In der großen Ballszene des ersten Akts wird ein regelrechtes Tickfeuerwerk abgebrannt, so ziemlich jede und jeder hat hier seine ganz spezielle Marotte - das Spektrum reicht von plötzlichen Luftsprüngen über irres Händeflattern bis zu heftigem Ganzkörperwackeln. Besonders beeindruckend sind die kunstvoll gestalteten Sturm-, Turm-, oder Topffrisuren.
    Ungewöhnlich direkte Interpretation
    Der zweite Akt bietet ein paar hin und her bewegte Skulpturen, die wie Zusammenrottungen von gigantischen Mikadostäben oder auch Zahnstochern wirken und ein bisschen an Kunstwerke des Chinesen Ai Wei Wei erinnern. Zum Finale erscheint die erst Verstoßene, dann reumütig, jedoch zu spät akzeptierte Schwindsüchtige auf einer Chaiselongue, mit gespenstisch weißem Gesicht und Verzweiflungsmimik. Hoch über ihr wandert ein hell erleuchtetes Fenster von rechts nach links. Überzeugend ist wieder einmal Wilsons Bilderkosmos und die Konsequenz, mit der er zu Werke geht. Doch handelt es sich hier letztlich doch nur um eine formschön dekorierte, hochästhetisierte Inszenierung? Nicht ganz, denn das tatsächlich Neue und Überraschende ist, dass Wilson diesmal tatsächlich näher an der Handlung, an den Gefühlen der Figuren als sonst ist. Wenn Violetta vokal fröstelt, darf sie sich auch mal zart über den Arm streichen, wenn sie mit Alfredo im Liebes- und Verzweiflungswahn versinkt, erlaubt Wilson den beiden auch ein paar konkrete, direkt auf die Situation bezogene Gesten. Die Partygesellschaft vollführt beim gemeinschaftlichen Anstoßen tatsächlich eine Tutti-Trinkgeste, später kippen die Figuren stark ins Surreale.
    Natürlich erlaubt Wilsons strenge Formensprache keine wirkliche Deutung des Stücks, auch die Kostüme verweisen in ihrer zeitlosen Eleganz auf kein bestimmtes Milieu oder eine spezifische Epoche. Dennoch besticht die Linzer "Traviata" durch eine ungewöhnlich direkte Interpretation der Geschichte gerade mit und durch Wilsons einschlägige Stilmittel. Das Premierenpublikum zeigte sich hingerissen und dankte mit stehenden Ovationen. Der Meister freute sich mit der ihm eigenen Coolness.