Theater an der Wien: Wiederkehr einer vergessenen Schaueroper

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An Heinrich Marschners „Hans Heiling“ lässt sich studieren, wo Wagner seine Ideen herhatte: Viel Jubel für die musikalische Umsetzung, freundliche Ratlosigkeit für die Inszenierung des Hausherrn, Roland Geyer.

Nicht in geweihter Erde wie brave Christenmenschen, sondern außerhalb des Friedhofs liegt Hans Heiling bestattet – dort, wo nach mittelalterlicher Sitte Selbstmörder verscharrt werden. Der Grabstein freilich ist nobel. Und die Dame, die frische Blumen bringt, scheint ehrlich zu trauern. Doch dann drückt sie das kleine Bild des Verstorbenen lasziv in ihren Schoß – und mit einem düster klingenden Chor, der unbeweglich hinter der Friedhofsmauer sichtbar wird (Bühne: Herbert Murauer), beginnt Heinrich Marschners romantische Oper „Hans Heiling“: eine große Rückblende. Knapp drei Stunden später wird die Inszenierung mit der Szene der Frau am Grab auch wieder enden.

Dieses Anfangs- und Schlussbild wirkt wie eine Metapher auf das verdienstvolle Unterfangen des Theaters an der Wien, die Saison mit diesem vergessenen – aber heute noch hörenswerten – Erfolgsstück zu beginnen, das 1833 in Berlin uraufgeführt wurde. Dass es für eine echte Wiederbelebung nicht reichen kann und es bei einer Andacht an der letzten Ruhestätte des Werks bleiben wird, wie sie immer wieder einmal gehalten wird, derzeit sogar parallel etwa in Regensburg, setzt die Bemühung keineswegs herab.

Stärkster Protagonist ist der Chor

Schon gar nicht, wenn ein Dirigent wie Constantin Trinks das Radio-Symphonieorchester Wien mit straffer Hand führt, die Pointen der Erinnerungsmotive prägnant modelliert und mit der Begleitung deklamatorischer Gesten, stimmungsvoller Melodramen sowie klangmalerisch-gespenstischer Chor-Tableaux großen Effekt erzielt. Mag sein, dass bei allem Brio Marschners teils italienisch anmutende melodische Süße nicht so zum Zug kommt und das strahlende Finale etwas lärmt, doch zielt die hier gezeigte, gestraffte Version ohnehin mehr auf die seinerzeit modernen, also schauerromantischen Elemente des Werks.

Die gelingen auch deshalb so eindringlich, weil der Arnold Schoenberg Chor, als Kollektiv der stärkste Protagonist auf der Bühne, neben etwas Landvolk besonders die vielfach quälenden inneren Stimmen sonor zum Klingen bringt und eindringlich verkörpert. Die Choristen sind ja in der Inszenierung des Hausherrn, Roland Geyer, nicht als Edelsteine abbauende Zwerge im Einsatz, sondern als Replikanten der Hauptfiguren. Und Heiling ist nicht Sohn der gütigen Königin dieser Erdgeister, der sich nach einer menschlichen Braut sehnt, sondern als Mensch der Gegenwart Opfer seiner Mutter: Sie, die Frau am Grab, hat ihn von Kindheit an sexuell missbraucht und will ihn nicht loslassen. Einziger Ausweg bleibt sein Suizid. Zugegeben, das ist unheimlicher als Zwerge.

Wagner übernahm viel von Marschner

„Talent borgt, Genie stiehlt“, lautet die unbarmherzige Regel in der Kunst, die von Oscar Wilde stammt – sofern er sie nicht selbst irgendwo hat mitgehen lassen. Trifft sie zu, dann ist Marschner ein großes Diebesopfer. Der gebürtige Sachse, tüchtiger Kapellmeister in Dresden, Leipzig und Hannover, hat als Komponist kluge musikalische Anleihen bei Beethoven oder Carl Maria von Weber genommen und daraus den Typus eines frühen romantischen Schauermusikdramas entwickelt: Bürgerliche Ordnung wird vom anderen, Fremden, Unheimlichen in Gestalt dämonischer, gebrochener Antihelden bedroht. Zu Lebzeiten hoch geschätzt, musste sich Marschner freilich sein Arsenal an dramatischen Ideen und musikalischen Strategien vom 18 Jahre jüngeren Richard Wagner nahezu komplett leer rauben lassen – Personenkonstellationen, Handlungsstränge und sogar melodische Wendungen inklusive. Und weil Wagner einfach besser mit all diesen Elementen jonglieren konnte und sie auch nicht mehr als altes Singspiel mit gesprochenen Dialogen, sondern modern durchkomponiert vertont hat, gehörte ihm die Zukunft: Marschners Werk, obwohl noch im Schwindfoyer der Staatsoper bildnerisch verewigt, verschwand von den Bühnen. Konsequenterweise bringt das Theater an der Wien im November Wagners „Fliegenden Holländer“ heraus, in dem so manches aus dem „Heiling“ wiederkehrt . . .

Regisseur Roland Geyer borgt. Man sieht deutlich, welche Regisseure er besonders schätzt – aber es fehlt ihm etwa die ehrliche Aufmüpfigkeit eines Konwitschny oder der grübelnde Tiefsinn eines Guth. Immerhin kann er sich auf ein Ensemble verlassen, das in seinen Partien weitgehend aufgeht – allen voran Michael Nagy als Heiling, hier ein verkorkster Kunstfotograf, und Angela Denoke als seine Mutter, auch wenn den beiden nicht (mehr) jeder Ton ohne Mühe aus der Kehle strömen will: ein in lustvoller Qual und quälender Lust glaubhaft aneinandergekettetes Paar. Schwerer haben es daneben, auch mit den etwas biedermeierlichen Dialogen, Katerina Tretyakova als Heilings leuchtkräftig, aber nicht immer ganz poliert tönende Braut, Anna, und Peter Sonn als ihr braver Verehrer Konrad – da hat das Abseitig-Düstere, wie es sich im Melodram der Gertrude (Stephanie Houtzeel) entfalten darf, doch stärkere Anziehungskraft.

Termine: 16., 18., 21., 23. und 25. 9., 19 Uhr

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2015)

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