Die Identität des Dichters – Stefan Herheim inszeniert «Hoffmanns Erzählungen» in Bregenz

Poesie und Leben, traditionelle Geschlechterrollen und die Grenzen des Ichs: Alles gerät ins Fliessen bei dieser Opernproduktion, die endlich wieder einmal demonstriert, was ästhetisch vollendetes Überwältigungstheater ist.

Christian Wildhagen, Bregenz
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Lasst uns die Musen begiessen: Ensembleszene aus «Hoffmanns Erzählungen» von Jacques Offenbach im Festspielhaus in Bregenz. (Bild: Keystone)

Lasst uns die Musen begiessen: Ensembleszene aus «Hoffmanns Erzählungen» von Jacques Offenbach im Festspielhaus in Bregenz. (Bild: Keystone)

Zwei Jahre lang war es still um das Enfant terrible der modernen Musiktheaterregie – zwei lange Jahre, in denen es nach seinen Salzburger «Meistersingern» und einer «Sizilianischen Vesper» aus London nur mehr Reprisen älterer Inszenierungen zu sehen gab: vor allem die 2009 erstmals in Brüssel gezeigte «Rusalka» und den köstlich überdrehten «Xerxes» aus Berlin von 2012. Und ganz allmählich begann man sich Sorgen zu machen um Stefan Herheim. Sollte der Regisseur, dem 2008 mit seinem Bayreuther «Parsifal» die intelligenteste Wagner-Deutung der jüngeren Aufführungsgeschichte gelungen ist, ähnlich schwer an dem Erfolgs- und Erwartungsdruck zu tragen haben, wie dies zuvor seinen Kollegen Peter Konwitschny und Andrea Breth widerfahren war?

Ein ideales Herheim-Werk

Es bedurfte jedenfalls eines besonderen Stücks, um den Meister eines kritisch reflektierten Überwältigungstheaters zu verlocken, seine Zaubermaschinerie wieder einmal in Gang zu setzen. Elisabeth Sobotka, die neue Intendantin der Bregenzer Festspiele und frühe Förderin Herheims aus Grazer Tagen, musste eigens den in der Bregenzer Dramaturgie eigentlich für Ur-, Erst- und Wiederaufführungen reservierten Programmplatz der Festspielhaus-Produktion freiräumen und ein Stück aufbieten, das alle Voraussetzungen für ein ideales «Herheim-Werk» mitbringt: zeit- und kulturgeschichtliche Querbezüge in Hülle und Fülle, Poesie und eine Handlung, aus der sich Funken schlagen lassen.

Und die Rechnung geht auf. Herheims Bregenzer Lesart der «Contes d'Hoffmann» von Jacques Offenbach enthält alles dies – aber noch viel mehr: Sie ist das Musterbeispiel einer Regiearbeit, in der die uralte Kunstform Oper endlich einmal wieder mit allen Mitteln die Sinne verführen will und darf. Denn dieser «Hoffmann» ist drastisch, derb und prall, er ist bitterböse und von der allerschwärzesten Romantik durchdrungen, manchmal chaotisch und auch ein bisschen pennälerhaft.

Doch damit kommt Herheim nicht bloss der Figur des «echten» Ernst Theodor Amadeus H. und seinen phantastischen Novellen nahe — er entgeht auch einer Gefahr, die in einigen seiner jüngeren Arbeiten seit der Salzburger «Salome» nicht immer gebannt war: derjenigen der Bildungshuberei und einer vom Eigentlichen wegführenden Überdeterminierung.

Bunt wie Cabaret

Zwar erreicht der Bregenzer Premierenabend noch nicht die szenische Präzision, dieses bezwingende, gleichsam schwerelose Timing, früherer Herheim-Produktionen; die Vorstellung muss nach der Ballade von «Klein-Zack» wegen eines Aussetzers der Technik sogar für zehn Minuten unterbrochen werden. Doch der Sog dieser Bühnen-Erzählung ist so stark und bei aller Perspektivenvielfalt so zielgerichtet, dass man kaum zu atmen wagt, bevor nicht die Welt des versoffenen Dichter-Genies und verzweifelten Liebhabers komplett in Trümmern liegt.

Dieser Spannungsbogen ist doppelt bemerkenswert, da die Regie – wie leider häufiger bei Herheim-Produktionen – wieder einmal wenig Unterstützung aus dem Orchestergraben erfährt. Die Wiener Symphoniker spielen nicht annähernd so poesievoll, wie es Stoff und Werk verlangen würden, stellenweise sogar ausgesprochen hölzern. Und den Tempi des Dirigenten Johannes Debus hätte ein Schuss jener Offenbachschen Cancan-Spritzigkeit gutgetan, die auf der Bühne so virtuos beschworen wird.

Bunt wie im Cabaret geht es dort zu. Dem zunehmend vernebelten Dichterhirn entspringen die absonderlichsten Gestalten: eine Singpuppe namens Olympia (von Kerstin Avemo mit brillanten, frech extemporierten Koloraturen ausgestattet), die hier freilich schon bald den Schlüssel zu ihrem inneren Mechanismus entdeckt und sich prompt in albtraumhafter Weise gegen ihren Erfinder wendet.

Oder die schwindsüchtige Sängerin Antonia (von Mandy Fredrich mit fiebriger Intensität gesungen), die Leben und Bühne so hingebungsvoll verwechselt, dass sie den Unterschied kaum mehr bemerkt, als ihr beim Singen der «echte» Tod die Hand auf die Schulter legt.

Oder schliesslich die chimärenhafte Giulietta, die bei Herheim, dem inzwischen erreichten Alkoholpegel entsprechend, überhaupt keine greifbare Gestalt mehr erlangt, sondern von Avemo, Fredrich und Rachel Frenkel, der Darstellerin von Hoffmanns Muse und Freund Nicklausse, abwechselnd gesungen wird, bei «L’amour lui dit: la belle» sogar im Terzett!

In der buchstäblich zerfliessenden Erscheinung der venezianischen Kurtisane kulminiert ein Leitmotiv der Inszenierung: die Brüchigkeit des dichterischen Ichs, ja des Prinzips der Identität an sich, einschliesslich der sexuellen Identität. Da letztlich alle Figuren des Stücks der Vorstellung des Poeten entspringen, besitzt Hoffmann nicht nur Dutzende Doppelgänger auf der Bühne (die Herren des Prager Philharmonischen Chores), er kann auch die weibliche Perspektive einnehmen. Daniel Johansson, mit seiner Spielfreude wie mit seinem leicht metallischen Tenor eine Idealverkörperung des Dichters, erscheint dann ebenso ungeniert in Straps und Corsage wie Olympia und Antonia vor ihrem Auftritt.

Auch sonst lässt Herheim die Geschlechtergrenzen verschwimmen. Hoffmanns erste (und einzig reale?) Geliebte Stella entpuppt sich als Transvestit (Pär Karlsson), der gleich im Eröffnungsbild volltrunken die Bühne hinabkullert. Und später darf auch Vierfach-Bösewicht Michael Volle, gleichsam als Negativ-Zerrbild der Stella, in ebenjenem Glitzer-Outfit als blonde Dragqueen brillieren.

Form und Verschnitt

Das mehr und mehr ausufernde Treiben auf der Bühne erhält nicht nur durch die quasi leitmotivisch wechselnden Kostüme von Esther Bialas, sondern auch durch das raffinierte Bühnenbild von Christoph Hetzer eine formale Einfassung. Hetzer, der erstmals mit Herheim zusammenarbeitet, hat eine in mehrere bewegliche Schenkel unterteilte, fast bühnenhohe Variété-Treppe entworfen, die in ihrem Inneren ausserdem Luthers Weinstube und die Kanäle Venedigs beherbergt.

Darüber erhebt sich ein schwenkbarer Himmel, auf den die Video-Künstler von «fettFilm» ab und an zart ironische Bildkommentare projizieren. Zur pompösen Dichter-Apotheose «On est grand par l’amour», die das Werk in Bregenz ganz traditionell beschliesst, erscheint eine kitschige Riesenorgel, die umgehend von einer zeitgenössischen Offenbach-Karikatur beiseite gefegt wird.

Recht so! Diese Apotheose ist nämlich, philologisch betrachtet, ein Unding; ebenso das nicht von Offenbach stammende «Helas!»-Septett und die sogenannte Juwelen-Arie (in der Volle eine kurze Indisposition souverän überspielt). Offiziell erklingt das unvollendete Werk in Bregenz nach der jüngsten Kompromiss-Fassung von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck; de facto zu hören ist allerdings, vor allem gegen Ende, ein auseinanderfallendes «Best of». Was Jacques Offenbach, der bei Herheim in Gestalt von Christophe Mortagne auch leibhaftig mit seinem Cello durchs Geschehen geistert und hingerissen die berühmte «Barkarole» mit der Schreibfeder dirigiert, zu diesem Verschnitt gesagt hätte, möchten wir lieber nicht wissen.