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Bregenzer Festspiele
Jacques Offenbachs skurriler Reigen

Stefan Herheims Inszenierung von Jacques Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" bei den Bregenzer Festspielen überzeugt auf allen Ebenen. Der Chor gibt alles, ebenso die Schauspieler. Es ist das totale Theater.

Von Wolf-Dieter Peter | 24.07.2015
    Vorhang in der letzten Strophe des Couplets von "Klein-Zack": ein Drittel der bühnengroßen Treppe blockierte und hätte die Verwandlung von Luthers Weinkeller hin zur Showtreppe für die von Hoffmann erneut herbeibeschworene Stella nicht ermöglicht. Nach zehn Minuten Pause wiederholte der schwedische Tenor Daniel Johansson seinen schwelgerischen Ausbruch, hob die emotionale Spannungskurve damit auf das vorherige Niveau – und war über seine blendende Bühnenerscheinung hinaus dennoch bis zu seinem bitteren Ende ein stimmlich beeindruckender Sänger-Dichter. Das konnte für den außergewöhnlichen Rang des ganzen Abends stehen: die gesamte Technik, der vielfach solistisch geführte Prager Chor (Einstudierung: Lukáš Vasilek) und alle Solisten waren bis an ihre Leistungsgrenzen gefordert. Denn es ging nicht nur um raffinierte Spielzüge. Hoffmann fragt sich, ob er das "Spielzeug eines Traumes" sei. Daraus entwickelte Regisseur Stefan Herheim ein "Bewusstseinsstrom"-Theater, in dem Realität, Erinnerung, Sehnsuchtsvision, Alptraum, Hoffnung und Scheitern sich wie in einem trans- und poli-sexuellen Rausch-Traum durchdringen. "Buh! Das hat nichts mit Offenbach zu tun!" schallte es nach wenigen Minuten aus der ersten Reihe des Parketts. Ein reifer Mann stand wütend auf, enterte die Bühne und forderte die echte "fantastische Oper" von Jacques Offenbach: dafür verwandelte er sich in den Rat Lindorf – es war Bariton Michael Volle als durchgängig wuchtiger Widerpart Hoffmanns. Er wie sein Gegenpart, die reizvolle Muse Von Rachel Frenkel, bespielten mehrfach das Parkett. Dazu: rasante Bühnenaktionen; die sich zu immer neuen Räumen auffaltende Treppe von Christof Hetzer; Projektionen auf seitlichen Vorhängen und die technisch perfekten, szenisch ergänzenden Videos auf dem schwenkbaren Bühnenhimmel samt einem Jacques Offenbach (glänzend parodistisch Christophe Mortagne), der mit seinem Cello hereinkam, vielfach mit seiner wundersam mächtigen Komponierfeder dirigierte und auch alle Dienerrollen übernahm – all das und vieles mehr - über die stupenden Kostümwechsel von Esther Bialas hinaus - ergab einen Eindruck von überwältigendem Totaltheater.
    Das gelang auch, weil der in seinen Frankfurter Jahren zum Musiktheater-Dirigenten gereifte Johannes Debus mit den Wiener Symphonikern all dies mit trug. Er war sich mit Herheim einig, dass nicht feststeht, wie Offenbach selbst den letzten Akt vollendet hätte. Beide und Dramaturg Olaf Schmidt entschlossen sich, aus der Aufführungsgeschichte die vom Publikum erwarteten Nummern hereinzunehmen: das 1904 in Monte-Carlo eingefügte Septett mit Chor, auch die 1905 in Berlin hereingenommene "Spiegel-Arie", die beide nicht von Offenbach stammen. Daraus wurde eine theatralische Konfrontation mit den Klischee-Erwartungen des Publikums vom "reifenden Künstler" – während der "erzählte Erzähler" Hoffman im Venedig-Akt ja Kontrolle und Ich-Bewusstsein verliert. Alle seine Träume wurden als Schein entlarvt: die Glitzerwelt des Cabarets um Stella, das Koloraturen produzierende Society-Püppchen Olympia, der tödliche Ruhm des Gesangsstars Antonia, die rettende Kraft der Kunst in Person der Muse – letztere drei flossen im gleichen Glitter-Abendkleid und Blond-Perücke zum wahnhaft enttäuschenden Triple-Sex-Star Giulietta zusammen. Doch ihre Botschaft an den durch Ich-Verlust wie tot wirkenden Hoffmann und das nach all diesen "Idolen" gierende Publikum lautete: "Groß durch die Liebe, doch größer noch durch Leid" – Offenbachs Aussage "Das ist keine opèra comique, sondern ein ernstes Werk, absolut tragisch" war erfüllt. Stumme Überwältigung, dann Jubelstürme und stehende Ovationen, gewürzt mit wenig Buh. Ein fulminanter Festspielabend.