Puccinis letzte Liebe

Für seine Neuinszenierung von Giacomo Puccinis Oper «Turandot» hat Marco Arturo Marelli einen Teil der Chinesischen Mauer in den Bodensee verpflanzt. Auch sonst wird viel zitiert an diesem Abend.

Christian Wildhagen
Drucken
Die Chinesische Mauer stürzt ein – und in der Bresche tauchen die Tonkrieger aus der Terrakotta-Armee auf: eine Totentruppe. (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Die Chinesische Mauer stürzt ein – und in der Bresche tauchen die Tonkrieger aus der Terrakotta-Armee auf: eine Totentruppe. (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Die Prinzessin sammelt Prinzenköpfe in Formaldehyd. Gerade ist wieder ein Neuzugang in ihrer grausigen Sammlung zu verzeichnen: Der Prinz von Persien hat sein stolzes Haupt verloren, etwas hohl und vom Übrigen getrennt glubscht es jetzt aus der Konservierungsbrühe – der prinzliche Rest ist schon vorher unsanft im Wasser des Bodensees entsorgt worden. Kein Wunder, dass die drei Minister Ping, Pang und Pong ihren Job als Henkersgehilfen gründlich satthaben. Doch das Regime der Prinzessin Turandot ist gnadenlos: Wer nicht gehorcht, wird umgehend von Geheimpolizisten in schwarzen Ledermänteln abgeführt, während das Establishment dem siechen Kaiser und seiner männerhassenden Tochter zujubelt, als wären wir auf einem Bonzen-Kongress in Peking oder Pjongjang.

Zitat einer Erfolgsproduktion

Marco Arturo Marelli hat für seine Inszenierung von Giacomo Puccinis letzter Oper «Turandot» tief in die Zitat- und Requisitenkisten gegriffen. Mitten im Bodensee erhebt sich ein sehr heiles und sehr kulissenhaftes Teilstück der Chinesischen Mauer, das allerdings schon bei den ersten Tönen der Musik spektakulär in der Mitte zusammenstürzt. Dahinter werden immerhin 205 nachgeformte Tonkrieger aus der berühmten Terrakotta-Armee des ersten chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi sichtbar, die gleichsam vom Himmel herab in die seichten Tiefen des Sees marschieren. Irisierende Lichtstimmungen (Davy Cunningham) lassen diese Totentruppe beängstigend lebendig werden.

Auf dem See «Turandot»: Chinesische Arbeiter. (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Auf dem See «Turandot»: Chinesische Arbeiter. (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Auch sonst wird viel herbeizitiert an diesem Abend: Beim Auftritt des greisen Kaisers Altoum (Manuel von Senden) erscheint auf einem hochgeklappten Riesenrundschirm zunächst eine kitschig strahlende Sonne, wie sie sich die übelsten Diktaturen nicht herrlicher ersinnen könnten, und bald darauf der allmächtige Kaiserdrache Lóng, das Symbol schlechthin für das alte China, verewigt auf Myriaden von Schriftrollen, Chinoiserien und Porzellansuppenschüsseln. Hier allerdings verliert das Ungeheuer im Verlauf des Abends zusehends an Farbe, wird gläsern-durchscheinend und vereist schliesslich vollends. Marelli will neben der bekannten Handlung um die herrische Prinzessin Turandot, die jeden Freier enthaupten lässt, der vor ihren drei Rätseln verzagt, nämlich noch eine gänzlich andere Geschichte erzählen.

Es ist die traurige Geschichte eines Komponisten, der mit seinem letzten, womöglich alles überstrahlenden Werk ringt, der buchstäblich dem Stoff und seinen Figuren verfällt und doch den rechten Schluss nicht finden kann. Es ist die Geschichte Giacomo Puccinis und seiner Fragment gebliebenen Oper «Turandot». Marelli zitiert sich hier gewinnbringend selbst: Unter seinen zahlreichen früheren Interpretationen des Werks (das er schon im April 2016 erneut inszenieren wird, und zwar an der Wiener Staatsoper) stand vor allem seine Grazer Produktion vom Januar 2014 Pate. Dies ist nicht überraschend, hat doch die neue Bregenzer Intendantin Elisabeth Sobotka hier kurzerhand eine Erfolgsproduktion aus ihrer Grazer Ära rezykliert.

Komponist und Prinz

Die Idee, das Ringen des Prinzen Calaf um die märchenhafte Turandot in eine Parallele zu setzen mit dem vergeblichen Kampf Puccinis um das Schlussduett seiner Oper, überzeugt konzeptionell durchaus, zumal die Gleichsetzung Calaf = Puccini der leicht eindimensionalen Figur des Draufgänger-Prinzen zusätzliche menschliche Facetten verleiht. Auf der Seebühne geht das feinsinnige Konzept freilich nicht auf. Die sinnbildliche Vereinigung des Komponisten mit seiner letzten Titelheldin vollzieht sich quasi im Privaten, vorn am Bühnenrand, in einer Komponistenklause mit Bett und Klavier (aber ohne den notorischen Aschenbecher), die auch das Sterbezimmer Puccinis in einer Brüsseler Klinik des Jahres 1924 sein könnte.

Diese Rettung ins Private erscheint vor der gewaltigen Kulisse, diesem mit Assoziationen schier übersättigten Pseudo-China, zu klein, sie lässt zu viele Handlungsstränge und szenische Motive unverbunden. Der Schluss, den man in Bregenz in einer geringfügig bearbeiteten Version der Alfano-Komplettierung spielt, wirkt unbefriedigend wie eh und je. Ihr letztes Rätsel gibt Turandot auch am Bodensee nicht preis.

Musikalisch sind bei der Premiere – selbst in der akustischen Vergröberung der Freilichtbühne – einige bewegende Momente zu verzeichnen. Sie sind, allen voran, der anrührenden Liù von Guanqun Yu zu verdanken. Sie meistert schon ihr «Signore ascolta» im ersten Akt mit beeindruckender Stimmkontrolle und einem tadellosen «messa di voce» am Ende und zieht dann in ihrer Schlussszene «Tu che di gel sei cinta» mit feinem, gänzlich unopernhaftem Gesang alle Sympathien auf sich. Der Turandot von Mlada Khudoley fehlt es am kalten Stahl einer Birgit Nilsson, sie ist ein ins Hochdramatische drängender Spinto-Sopran mit deutlicher Mezzo-Tönung. Diese Farbe setzt sie vor allem in der psychologisch packend gestalteten Rätselszene im zweiten Aufzug ein. Auch im entfesselten Wettstreit um die Spitzentöne schenkt sie ihrem Tenorpartner Riccardo Massi nichts.

Pavarotti-Qualitäten

Massi verlässt sich anfangs ein wenig zu sehr auf seine schöne, in der Höhe zunächst etwas enge Stimme, beschert dem hingerissenen (und hingerissen per Smartphone mitschneidenden) Publikum dann aber ein «Nessun dorma» mit Pavarotti-Qualitäten. Paolo Carignani dirigiert das Werk, anders als unlängst Riccardo Chailly an der Scala, ohne mit den Wiener Symphonikern einen besonderen Fokus auf dessen avantgardistische Qualitäten zu legen – eher mit einer an diesem Ort durchaus zweckdienlichen Routine und Stilsicherheit. Die schwierige Koordination zwischen der Seebühne, dem Orchester und den ebenfalls im regensicheren Festspielhaus postierten Chören aus Prag und Bregenz dürfte bei den kommenden Aufführungen bis zum 23. August noch sicherer gelingen.