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Das Dunkle in uns

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Auch der Spiegel zeigt nichts Neues: Das Böse in uns ist immer noch da.
Auch der Spiegel zeigt nichts Neues: Das Böse in uns ist immer noch da. © Jörg Landsberg

Bremen - Von Ute Schalz-Laurenze. Ein Schiff? Ein Labyrinth? Eine Bar? Ein Hotel? Es kann alles sein und alles zusammen, was sich auf der Bühne dreht, im Hintergrund das Meer (Bühne von Irene Ip). Es ist die Insel Tauris in Georg Friedrich Händels Oper „Oreste“, auf der nach dem trojanischen Krieg sechs Personen versuchen, mit den Schäden ihrer Vergangenheit fertig zu werden und das Dunkle und Zerstörerische zu überwinden.

Da ist zunächst einmal der mit epileptischen Anfällen gequälte Orest, der nach dem Mord an seiner Mutter Klytämnestra Vergessen von den ihn verfolgenden Erynnyen sucht. Da ist Iphigenie, von der er nicht weiß, dass sie seine Schwester ist, die wiederum Erlösung von ihren Mordaufträgen sucht. Sie muss im Auftrag des Tyrannen Thoas alle auf der Insel Ankommenden töten, weil das Orakel ihm vorhergesagt hat, er werde von Orest umgebracht. Thoas wiederum provoziert seinen Tod, denn als ein archaisch-barbarischer Mensch, der sich einfach alles nimmt, was er begehrt, kann er auch nicht weiterleben. In Zwängen steckt auch sein Diener Philoktet, der Iphigenie die Rettung Orests verspricht, wenn sie ihn liebt. Auch Orests Frau Hermione und sein Freund Pylades befinden sich auf der Insel und tragen das Ihre zu komplexen Seelenverwirrungen bei, an deren Ende die Tötung Thoas‘ durch alle steht.

Das ist schon einmal eine ganz andere Konzeption als die Strickmuster immer gleicher Liebeswirren in barocken Opern. Dass an erster Stelle des Denkens und der Arbeit bei dem Regisseur Robert Lehniger der Film und das Video steht, hat er bestens – wenn auch manchmal des Guten zu viel – genutzt: Die unterschiedlich rhythmisierten Einblendungen zeigen Erinnerungen und Träume, die die Personen fast erhellender und klarer zeichnen als die konkrete Personenführung auf der Bühne, die nicht selten beliebig zu bleiben scheint. Dass letztendlich trotzdem recht klare Charaktere dabei herauskommen, liegt an der enormen Qualität der Musik und an der genauso enormen Qualität der Ausführung.

Für die ist der schwedische Barockspezialist Olof Boman verantwortlich, der in Bremen nach Vivaldis „Orlando fusioso“ und Händel „Messiah“ zum dritten Mal mit den Bremer Philharmonikern eine berückende Einstudierung vorlegt. Man kann hier vergessen, dass es sich bei der Musik um ein sogenanntes „Pasticcio“ – also um die Verwendung schon vorhandener Musik – handelt. Händel hat 1734 aus Zeitmangel das Beste seiner Opern genutzt und die Rezitative neu komponiert. Boman überzeugt mit den fabelhaft gecoachten Musikern mit einem Farben- und Artikulationsreichtum, mit einem zugrunde liegenden „Beat“, mit einer gleichzeitig emotionalen Wucht, wegen der allein diese Aufführung schon empfehlenswert ist.

Im Mittelpunkt von allem steht das Schreckgespenst Thoas: eine Paraderolle für den Sängerschauspieler Patrick Zielke. Zusammen mit den Videos, die auch seine Menschlichkeit und Träume zeigen, gelingt die komplexe Doppelbödigkeit seiner Seele. Auch Marysol Schalit als Iphigenie zeigt mit ihrem leuchtenden Sopran ihre blutüberströmte verzweifelte Schlachterei ebenso wie ihre liebende Sehnsucht nach Orest. Ulrike Mayer als Orest – die Titelrolle sang in der Uraufführung der damals berühmteste Kastrat Giovanni Carestini – überzeugt spielerisch wie gesanglich.

Unglaublich schwer zu singen sind diese Arien, wurden aber stilistisch kompetent und klangschön bewältigt von Christoph Heinrich als verzweifelter Philoktet, Nerita Pokvytyte als berührend liebende Hermione und Hyoyong Kim als treu-solidarischer Freund Pylades. Die selten gespielte Oper – zuletzt 2006 in Berlin – hätte mit ihrer aktuellen Frage nach dem Bösen in uns allen eine größere Repertoirepräsenz verdient. Eine Erkenntnis, zu der die mit Ovationen belohnte Aufführung in Bremen erheblich beiträgt.

Weitere Termine: morgen, 5., 9., 20. und 25. Juni, jeweils um 19.30 Uhr, Theater am Goetheplatz.

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