„La mère coupable“: Was aus den Almavivas wurde

(c) Katharina Roßboth
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„La mère coupable“ von Darius Milhaud: Das Theater an der Wien lüftet das Geheimnis, wie es mit Figaro, Susanna und dem Grafen weiterging.

Fortsetzungen gab es viele, im Sprechtheater wie auf der Opernbühne, von berufener wie von weniger berufener Hand: Die Beliebtheit der Vorlage und ihrer Figuren war enorm. Um nur zwei der prominentesten zu nennen: In Jules Massenets „Chérubin“ (1905) stehen weitere Liebesverwicklungen rund um den pubertierenden Pagen und nunmehrigen Offizier im Zentrum einer charmanten Comédie chantée, während Ödön von Horváth 1937 mit seiner Komödie „Figaro lässt sich scheiden“ auch dunklere, seine eigene Zeit widerspiegelnde Seelenregungen erkundet. Doch wie ist die Geschichte im Original weitergegangen, welche Zukunft blüht all jenen Figuren, die wir aus „Il barbiere di Siviglia“ und „Le nozze di Figaro“ kennen und lieben?

Denn das einzig wahre Sequel kann doch nur von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais persönlich stammen, ihrem Schöpfer – also von jener überaus schillernden Figur, deren Facetten kaum alle zu erfassen sind: Er war Sohn eines einfachen Uhrmachers und erlernte das Handwerk, wurde Erfinder, Harfenist, Musiklehrer, konnte ein Adelspatent kaufen, war Diplomat, Dramatiker, Spion, Voltaire-Herausgeber, Librettist, Waffenhändler, Satiriker, Gärtner, Bankier, Revolutionär – und zwischendurch auch einige Male auf der Flucht oder im Gefängnis. Erfahrungen,
die sämtlich in seine Werke eingeflossen sind. Tatsächlich hat Beaumarchais einen eigenen dritten Teil seiner „Figaro“-Story verfasst – und im Theater an der Wien kommt er nun in seiner spät entstandenen Opernversion auf die Bühne.

Am Naschmarkt widmet man sich in der von Raritäten dominierten aktuellen Saison der kompletten Trilogie in ihrer Musiktheatergestalt: Nach „Il barbiere di Siviglia“ in der lange Zeit unangefochten populären, längst aber selten gespielten Erstvertonung durch Giovanni Paisiello (inszeniert vom Duo Leiser/Caurier und mit René Jacobs am Pult) sowie Mozarts „Le nozze di Figaro“ unter Marc Minkowski (Regie: Felix Breisach) steht als Finale „La mère coupable“ auf dem Programm. 1966 erlebte Beaumarchais’ gleichnamiges Stück in der Vertonung von Darius Milhaud in Genf unter der Leitung von Serge Baudo und mit Sängern wie Louis Quilico, Eric Tappy und José van Dam seine Uraufführung; nun dirigiert Leo Hussain das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Regie führt Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger. 

Inspiration Rio. „Ich bin ein Franzose aus der Provence und ein Jude der Religion nach.“ So begann Darius Milhaud seine Lebenserinnerungen „Noten ohne Musik“, und die kulturelle Verwurzelung im gleichsam ganzen Mittelmeerraum bestimmte sein Lebensgefühl. Früh wurde Milhaud mit afrikanisch inspirierter südamerikanischer Musik und dem Jazz vertraut, woraus er wichtige Anregungen zog: Er hatte von 1916 bis 1918 als Attaché von Paul Claudel in Brasilien gelebt, der als französischer Botschafter nach Rio de Janeiro entsandt worden war. In der Folge hielt Milhaud am Primat des Melodischen fest, verband dies aber mit einer selbstverständlich anmutenden Polytonalität.
Seine vielschichtige Musik handelt oftmals simultan und dadurch zeitlich sehr kompakt ab, was sonst linear breiten Raum einnehmen würde – ein Grundsatz, den auch Arnold Schönberg an ihm zu schätzen wusste. Da Milhaud ein überaus produktiver Komponist war, verzeichnet sein Werkkatalog fast 450 Einträge – verblüffende Besonderheiten inbegriffen: Sein 14. und 15.   Streichquartett sind so komponiert, dass die beiden Werke einzeln und gleichzeitig gespielt werden können: Das Stimmengeflecht fügt sich zu einem perfekten Oktett zusammen. Auch in „La mère coupable“ greifen Milhauds musikalische Linien, die er bei den Singstimmen der französischen Sprachmelodie ablauscht und doch auch zu Ensembles verknüpft, auf das Delikateste ineinander, obwohl freilich zu einer ganz anderen Handlung, als „Barbiere“ und „Nozze“ vermuten ließen.

Fehltritt der Gräfin. Denn das im Juni 1792 in Paris an der Kippe von der ersten zur blutigen zweiten Phase der Revolution uraufgeführte Stück von Beaumarchais lässt den bissigen Komödienton überraschend hinter sich. Fast zwei Jahrzehnte sind vergangen, die Almavivas (Markus Butter und Mireille Delunsch) haben ihr Schloss bei Sevilla aufgegeben und sich
in Frankreich bürgerlich niedergelassen; Anpassung an die Realität triumphiert über die Träume und Ideale von anno dazumal. Der Graf wacht nun selbst über ein Mündel wie einst Bartolo – nur handelt es sich bei der sensiblen Florestine
(Frederikke Kampmann) um seine illegitime Tochter. Der älteste Sohn ist bei einem Duell getötet worden, bleibt als Stammhalter dessen jüngerer Bruder Léon (Andrew Owens), der aber in Wirklichkeit einem Fehltritt der Gräfin mit dem vor langer Zeit gefallenen Cherubino entstammt. Noch dazu wollen Léon und Florestine heiraten. Nur einer ist im Besitz aller Geheimnisse: der intrigante Ire Bégearss (Stephan Loges), der durch gewiefte Winkelzüge das gräfliche Erbe an sich zu bringen versucht. Regisseur Herbert Föttinger zeigt sich fasziniert von der seinerzeit am Theater erfolgreichen, dann aber bald vergessenen Story mit ihren „psychologisch interessanten, ambivalenten Figuren“, die auf die „Zerstörung der Familie“ zusteuern würden: „Bei uns wollen die Almavivas ein Hotel an der Atlantikküste betreiben. Der Graf möchte bürgerlich werden, doch nichts funktioniert, die alten Wunden brechen auf, er entwickelt eine Sehnsucht nach Entschleierung, nach der Wahrheit, aber auch nach Zerstörung. Natürlich ist die im Titel genannte ‚schuldige Mutter‘ zentral, die Rosina von einst, die sich mittlerweile schicksalsergeben in katholischer Reue übt. Aber auch der Graf ist sehr spannend, einer der alles verloren hat: seinen Titel, seine Macht, seinen gesellschaftlichen Status, seinen leiblichen Sohn, der gehörnt und kastriert ist. Ich sehe ihn ein bisschen wie den Vater in Pasolinis ‚Teorema‘, der am Schluss nackt in die Wüste läuft.“

Figaro (Aris Argiris) und Suzanne (Angelika Kirchschlager) unterstehen ihren Arbeitgebern „nur noch“ sozial: „Der verzweifelt komische Figaro, der letzte Vertraute des Grafen, bewahrt diesen nun nochmals vor dem Untergang, indem er Bégearss entlarvt. Diesen frömmlerischen, fast priesterlichen Mann anzuzweifeln – das ist die Qualität des Figaro, so wie er als aufgeklärter Diener auch die Macht des Grafen angezweifelt hat. Figaro zeigt das letzte Aufflackern des Humors eines alternden Clowns, eines Schauspielers, bei dem die Pointen nicht mehr so richtig funktionieren. Denn die Komödie von einst ist vorbei.“ Und es gibt auch keine Arien mehr. „Ich mag Milhauds humorvolle, jazzartige, manchmal dekonstruierende Klänge. Sie zeigen, dass die Welt nicht mehr so ist, wie sie war. Von Paisiello über Mozart in eine freie Tonalität zu gehen erzählt auch vom Gefühlszustand dieser Menschen: Der Dreiklang löst sich auf. Mit einem Ohrwurm nach Hause zu gehen, das schaffen Sie bei Milhaud wohl nicht. Aber für einen spannenden Musiktheaterabend ist seine Komposition fantastisch!“

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